Politik ist nicht nur ein rationales Geschäft. Emotionale Bedürfnisse spielen eine zunehmend wichtige Rolle bei politischen Entscheidungen. Prof. Georg Wenzelburger untersucht in einem Forschungsprojekt, wie das funktioniert und welche Strategien dahinterstehen.
Herr Prof. Wenzelburger, was hat Sie zu diesem Forschungsprojekt bewogen?
Ausschlaggebend waren zwei Gründe. Zum einen habe ich vor drei Jahren ein Buch zur Politik der Inneren Sicherheit im internationalen Vergleich veröffentlicht. Im Zuge der Forschung zu diesem Buch ist mir aufgefallen, dass politische Parteien gerade im Bereich der Inneren Sicherheit stark emotional argumentieren. Ein Beispiel: In einem Land ist die Kriminalitätsrate nicht gestiegen. Dann gibt es zwei Fälle von aufsehenerregenden Straftaten. Das wird dann genutzt, um politisch daraus Kapital zu schlagen, indem die Fälle stark politisiert werden, und auch in den Medien wichtig werden. Politiker können sich dann als „tough on crime“, also als „harte Hunde“ in der Öffentlichkeit darstellen, um damit Stimmen zu gewinnen. Das funktioniert über Emotion. Sie machen das auch aus wahltaktischen Gründen. Die Wahlforschung zeigt zum Beispiel, dass Wahlergebnisse von zugeschriebenen Kompetenzen der Parteien abhängen. Und durch entsprechendes Auftreten kann man daraus Kapital schlagen – indem man die Themen betont, bei denen man selbst als kompetent angesehen wird. Auch dazu ein gutes Beispiel: Nicolas Sarkozy in Frankreich, von der damaligen Konservativen Partei, wusste, dass er und seine Partei beim Thema Innere Sicherheit als kompetent angesehen wurden, also davon profitieren würden, wenn solche Themen vor den Wahlen wichtig würden. Es machte also für ihn strategisch Sinn, bestimmte Kriminalfälle zu nutzen, sie zu politisieren, Emotionen zu wecken und sich als derjenige darzustellen, der für „Law and Order“ steht. Daraus hat er Kapital geschlagen – und ist Präsident geworden.
Zum zweiten sieht man diese Mechanismen immer wieder. Damit stellt sich für mich die Frage: Hat das vor allem mit Innerer Sicherheit zu tun, oder gibt es auch andere relevante Themen, die emotional aufgeladen werden? Man kann darüber nachdenken, welche Rolle „protection“, also Schutz und Sicherheit, im Zuge der Corona-Pandemie gespielt hat? Ist da nicht auch über Themen der Sicherheit versucht worden, politisch Emotionen zu wecken?
Warum verbindet sich die Frage nach Emotionen und Politik so stark mit dem Thema Sicherheit?
Weil es uns sehr direkt selbst betrifft, wenn wir das Gefühl haben, dass unser Sicherheitsbedürfnis beeinträchtigt ist. Diese Verbindung wurde schon früh gesehen, zu Beispiel in der politischen Philosophie, etwa bei Thomas Hobbes (Staatstheoretiker im 17. Jahrhundert, Anm. d. Red.). Hobbes argumentierte, dass es einen Gesellschaftsvertrag geben muss, damit Sicherheit als eine Kernaufgabe des Staates gewährleistet ist – bei ihm dann umgesetzt durch einen allmächtigen „Leviathan“. Aber wir sehen auch, dass Sicherheitshemen nicht nur bei Innerer Sicherheit emotional sind, sondern auch in anderen Bereichen. Bei Corona haben wir das für den Gesundheitsbereich gesehen, aber auch soziale Sicherheit wird sehr emotional diskutiert. Deshalb wollen wir unser Projekt breiter und interdisziplinär aufstellen, also auch fragen, wie Personen auf das Thema Sicherheit und sicherheitspolitische Diskurse reagieren. Deshalb sind auch politische Psychologen, Sozialpsychologen und Ethnologen Teil des Projektteams. Wir wollen das Thema also nicht nur aus der Law-and-Order-Perspektive betrachten.
Aktuell lösen Stichworte wie Flüchtlinge oder Islamismus starke emotionale Reaktionen aus, auf die Politiker eingehen.
Stimmt! Ein Kollege aus Israel, der auch Teil unseres Teams ist, hat dafür den Begriff „emotional entrepreneur“ geprägt; er meint damit politische Akteure, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Emotionen für sich zu nutzen. Wir wissen in der Forschung aber noch nicht so genau, wie das funktioniert: Wie machen die das genau, was sind die Strategien, die dahinterstehen. Eines unsere Projekte versucht, da hineinzuschauen. Die Untersuchung der „emotional entrepreneurs“ läuft bei uns im Saarland, gleichzeitig bei den Kollegen in Dänemark, und in Israel. Wobei Israel natürlich ein besonderer Fall ist – und wir werden noch klären müssen, wie wir dabei mit den aktuellen Entwicklungen umgehen.
Was genau wollen Sie untersuchen?
Wir schauen uns Gesetze aus dem Bereich von „protective policies“ an – also „schützende Politik“. Konkret geht es dabei zum Beispiel um Innere Sicherheit, Gesundheit, Migration. Wir sehen uns den Prozess der Entstehung eines Gesetzes an, und fragen dabei, an welchen Stellen entstehen Emotionen, und an welchen Stellen sehen wir die Rolle des Entrepreneurs, der Emotionen nutzt, etwa um eine bestimmtes Gesetz in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen, in der Hoffnung, damit schließlich Wahlen zu gewinnen, oder auch aus ideologischen Gründen, also weil er oder sie glaubt, dass beispielsweise höhere Strafen etwas nutzen.
Geht es dabei um die Frage nach einer angstbasierten Politik?
Das ist eine Möglichkeit. Es gibt aber auch andere Emotionen, die in der Politik eine Rolle spielen, wir wollen das nicht nur auf Angst begrenzen. Es gibt ja auch nicht nur die konkrete Angst, sondern auch eine diffuse Angst, ein Unwohlsein, das unsere Zeit charakterisiert, was auch politisch genutzt werden kann. Und es gibt auch nicht nur diese negativen Emotionen, sondern auch positive Emotionen, die genutzt werden können. Was passiert beispielsweise, wenn ein Land die Fußballweltmeisterschaft gewinnt? Aber natürlich ist es bei unserem Feld der schützenden Politik wahrscheinlich, dass eher Emotionen wichtig sind, die Elemente von Angst beinhalten. Ich würde es dann aber nicht als angstbasierte Politik bezeichnen, das ist mir etwas zu stark. Ich würde eher sagen, das ist häufig eine Politik, die auf einem Gefühl des Unwohlseins oder der Verunsicherung basiert.
In der allgemeinen Einschätzung geht man davon aus, dass solche Emotionen eher von politischen Rändern, insbesondere von rechts, genutzt werden.
Ich würde zustimmen, dass das empirisch eine Rolle spielt. Wir sehen aber auch viele Beispiele, wo etablierte Parteien Emotionen nutzen. Bei Angst, Migration, Law and Order denken wir natürlich sofort an rechtspopulistische Parteien. Aber konservative Parteien haben immer auch über diese Themen Wahlkampf gemacht und nutzen sie auch. Ein anderes Beispiel könnten auch Olaf Scholz und die SPD sein, die ja Wahlkampf gemacht haben mit „Respekt“ – also der Tatsache, dass wir bestimmte Gruppen durch Sozialpolitik besser schützen müssen. Respekt vor ihrer Arbeit, vor der Lebensleistung, das ist auch mit Emotionen besetzt. Die SPD hat ja nicht einfach gesagt: Ihr kriegt 20 Euro mehr, sondern: Wir wollen, dass es Respekt gibt vor eurer Lebensleistung. Das hat starke emotionale Aspekte und hat sicher mit dazu beigetragen, dass die SPD besser abgeschnitten hat, als viele vorher gedacht haben, und dass Scholz am Ende Bundeskanzler geworden ist.
Ist Demokratie nicht grundsätzlich auch darauf angelegt, dass man auf die Emotionen Rücksicht nehmen muss?
Ein Kernbestandteil von Demokratie ist, politikwissenschaftlich betrachtet, dass die Präferenzen der Bevölkerung, also die Interessen gesellschaftlicher Gruppen, durch auf Zeit gewählte Repräsentanten in Politik übersetzt werden. Wählerinnen und Wähler entscheiden sich zum Beispiel entlang von Wahlversprechen für eine Partei – und entweder werden diese dann umgesetzt, dann wähle ich die Partei erneut, oder sie werden nicht umgesetzt, dann eben nicht – etwas verkürzt gesagt. In der politikwissenschaftlichen Forschung zur repräsentativen Demokratie interessieren wir uns also dafür, wie Präferenzen und Interessen Politik beeinflussen – und schauen deutlich seltener auf Emotionen. Das ist eine Forschungslücke, die wir mit dem Projekt bedienen können. Wir fragen: Werden die emotionalen Bedürfnisse von der Politik aufgenommen? Wie werden sie aufgenommen? Und wie beeinflusst Politik im Umkehrschluss emotionale Bedürfnisse? Die bisherige Forschung spricht etwa von einer Repräsentationskette, wenn Präferenzen von Wählerinnen und Wählern über Parteien und Regierungen in politische Entscheidungen übersetzt werden. Das ist aber alles sehr materiell gedacht, es geht um konkrete Dinge, etwa Mindestlohn, Sozialhilfe … Wir wollen jetzt zusätzlich auf die emotionale Komponente dieser Repräsentation schauen: Wird das, was die Leute fühlen, in der Politik aufgenommen und von der Politik adressiert. Das ist bisher weitgehend nicht erforscht und soll unser Beitrag an der Stelle sein.
Es ist ein europäisches, internationales Projekt. Steht dahinter die These, dass es in allen Demokratien ähnlich abläuft?
Also wir erwarten schon, dass sich zeigt, dass die Kontexte der untersuchten Länder einen Unterschied machen, beispielsweise wie stark einzelne Parteien sind. Das ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich und erlaubt uns zu untersuchen, wie der Einfluss von Emotionen auf die Politik jeweils ist. In den Ländern, die wir untersuchen, gibt es unterschiedliche Parteiensysteme, unterschiedliche politische Kulturen, und auch unterschiedliche Regierungssysteme.
Hat die Frage nach Emotion und Politik nicht etwas von der berühmten Henne-Ei-Frage?
Es ist vielleicht weniger eine Frage von Henne und Ei, sondern eher von sich verstärkenden Effekten. Es gibt in der Forschung das Konzept von politischen Überreaktionen oder „policy bubbles“, also Politik-Blasen, die durch Emotionen entstehen können. Das bedeutet, dass die Politik mehr macht als eigentlich von der Mehrheit der Bevölkerung für notwendig gehalten wird. Dabei könnten auch die schon erwähnten emotionalen Entrepreneure dazu führen, dass es Überreaktionen gibt. Diese Ausbrüche von Emotionen und politischen Überreaktionen sind empirisch beobachtbar. Aber wie es genau dazu kommt und ob etwa Emotionen strategisch genutzt werden, ist noch nicht wirklich gut erforscht. Wir gehen davon, dass Politiker Emotionen nutzen für die nächste Wahl, für eine bessere Position in ihrer Partei oder ihre persönlichen Ambitionen. Das macht nochmal das Beispiel Sarkozy deutlich. Er ist – gegen andere in der Partei – Präsidentschaftskandidat geworden, weil er Innenminister war und seine emotionalen Appelle im Bereich der Law and Order Politik dazu genutzt hat, um innerparteiliche Vorteile zu gewinnen. Wir versuchen nun zu erforschen, wie das genau funktioniert.
Inwiefern spielt Social Media dabei eine Rolle?
Wir machen kein reines Social-Media-Projekt, aber wir schauen uns natürlich in Teilprojekten an, wie kommuniziert wird, sowohl traditionell, etwa Parteitags- oder Parlamentsdebatten, aber auch in Social Media. Wir wollen uns in Teilprojekten aber auch anschauen, wie Emotionen in der Bevölkerung aufgenommen werden, auch in Teilbevölkerungen, beispielsweise unter Migranten als Reaktion auf geänderte Gesetze. Das werden dann sehr qualitative Einzelfallstudien. Hier an der Universität des Saarlandes wird sich etwa Dr. Beatriz Carbone genauer mit der Frage beschäftigen, wie Migranten und Migrantinnen emotional auf sicherheitspolitische Maßnahmen reagieren.
Spielen Emotionen in der Politik eine größere Rolle in Phasen mit größeren Unsicherheiten?
Es entspricht unserer These des Projekts, dass emotionale Bedürfnisse wichtiger werden für Entscheidungsfindungen in der Politik, weil wir in einer Zeit leben, die Verunsicherung potenziert. Dass es also nicht reicht zu sagen, ihr kriegt jetzt alle mehr Bürgergeld, und dann sind alle zufrieden und glücklich, sondern dass es auch um andere Dinge geht, um Verunsicherungen zu vermeiden. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass emotionale Verunsicherung für bestimmte politische Akteure (wie „emotionale Entrepreneure“) Möglichkeiten eröffnet, über emotionale Aussagen die Verunsicherung weiter anzuheizen. Wie das gelöst werden kann, ist eine offene Frage. Deshalb wollen wir verstehen, wie die Mechanismen funktionieren und zu welchen Veränderungen das im politischen Prozess führt. Wie kann eine politische Antwort aussehen auf dieses Gefühl der Unsicherheit, dass hier irgendetwas nicht mehr stimmt, dass irgendetwas gerade in die Brüche geht? Das kann aus unserer Sicht nicht nur mit politisch-materiellen Antworten gelöst werden, das hat etwas mit Emotionen zu tun. Wie die Reaktion der Politik auf Emotionen ausfällt und wie die Bevölkerung dann wieder reagiert und wovon dies beeinflusst wird, ist eine offene Frage und damit besonders spannend.
Was würde eigentlich emotional passieren, wenn der Bundeskanzler statt einer trockenen Regierungserklärung nach dem berühmten Karlsruher Urteil zur Schuldenbremse im Bundestag gesagt hätte: Ich muss mich auch erst mal sortieren, im Moment weiß ich auch nicht, wie es gehen soll?
Mein Eindruck ist, dass es schon Politiker gibt – wie etwa Robert Habeck –, die das gelegentlich versuchen. Aber es ist ja auch nicht so, dass wir sagen würden, dass das Materielle jetzt gar keine Rolle mehr spielen würde. Die Erhöhung des Bürgergeldes hat sicher vielen Menschen geholfen und an manchen Stellen das Gefühl der Unsicherheit abgemildert. Es ist gut und wichtig, dass in der Demokratie materielle Bedürfnisse befriedigt werden. Aber in dem aktuellen Kontext einer generell höheren Verunsicherung der Bevölkerung müssen wir uns eben auch fragen, welche Rolle Emotionen dabei spielen. Und wenn man darüber noch nicht viel weiß, dann muss man damit anfangen, es herauszufinden. Das machen wir mit unserem Projekt.