Thomas Tuchel und der FC Bayern München – sportlich läuft es bisher nach Plan. So wirklich Ruhe einkehren will aber trotzdem nicht. Es herrscht gewaltiges Konfliktpotenzial.

Thomas Tuchel tat beim Auswärtsspiel in Köln nach der Länderspielpause etwas Ungewöhnliches: Er wechselte nicht aus. Und das, obwohl er zuvor heftige Kritik am Spielkalender geübt hatte: „Die Leute wollen die besten Spieler mit Freude und Lust Fußball spielen sehen“, sagte der 50-Jährige und ergänzte: „Das ist in dem Kalender an der absoluten Grenze, wenn nicht drüber.“ Nach der abgelaufenen Länderspielpause hätten auch die jeweiligen Nationaltrainer das Feedback gegeben, „dass die Jungs müde sind. Die sind mental müde, die sind emotional müde, die sind physisch müde“, so Tuchel weiter. Dabei gehe es nicht nur um die Anzahl der Spiele, sondern auch um die Strapazen der vielen Reisen: „Da kommen nächstes Jahr noch zwei Champions-League-Spiele dazu, da kommt ein Turnier im Sommer, das ist einfach an der Grenze.“ Umso verwunderlicher, dass beispielsweise Thomas Müller 90 Minuten auf der Bank Platz nehmen musste. Tuchel glaubt darüber hinaus an eine Karrierefortsetzung des Münchener Nationalspielers auf allerhöchstem Niveau. „Thomas ist fixer Bestandteil unserer Mannschaft, ist eine Ikone für den Club, eine spielende Legende.“ Müller hatte zuvor wie erwartet angekündigt, seine Karriere über das Saisonende hinaus fortsetzen zu wollen. „Natürlich wollen wir ihn im Team haben, und es ist selbstverständlich, dass er weiterspielen will“, sagte Tuchel. „Er ist topfit im Moment, hat Bock zu trainieren, Bock zu spielen. Er ist Fußballer durch und durch. Wieso sollte er nicht weiterspielen auf dem allerhöchsten Niveau?“ Auch wenn Müller aktuell nicht den Spielanteil habe, der ihn „absolut glücklich“ mache, erlebe er den 34-Jährigen sehr positiv.
Kein Wechsel im gesamten Spiel
„Sieh dir an, wie meine Füße aussehen. Und ich Idiot habe für die Bayern alles gegeben, nur damit sie mich jetzt beleidigen und wie einen Schrotthaufen wegwerfen. So lasse ich mich nicht behandeln!“ Das Ende der beeindruckenden Karriere von Gerd Müller, dem größten deutschen Stürmer aller Zeiten und Weltmeister beim FC Bayern München, war im Februar 1979 dramatisch und schmerzhaft. Doch zumindest war es schnell vorbei. Das Ende von Thomas Müller beim Rekordmeister ist derzeit noch unklar. Es wird wahrscheinlich kein kurzer Prozess sein. Ob er dramatisch und schmerzhaft wird, scheint jedoch immer wahrscheinlicher zu werden. Am 3. Februar 1979 wurde Gerd Müller vorzeitig von seinem Trainer Pál Csernai ausgewechselt – zum ersten Mal in seiner Karriere aufgrund seiner Leistung. Müller gestand später, dass er „schlecht gespielt“ hatte, aber für den Torjäger war etwas noch Bedeutenderes im Gange: „Das kam dem Csernai gerade recht. Er mochte mich sowieso nicht.“ Müller bat daraufhin um seine sofortige Freigabe. Und so stand die Legende des FC Bayern nur eine Woche nach seiner Auswechslung am 10. Februar 1979 zum letzten Mal für die Münchener in der Bundesliga auf dem Platz. Er verabschiedete sich wütend und traurig in die USA. Das unglückliche Ende des Gerd Müller war schon damals des FC Bayern nicht würdig.
Eine „lebende Legende“

Im Nachhinein bedauerten nicht wenige diesen dramatischen Abschied voller Verlierer und gebrochener Herzen. Fast 45 Jahre später befindet sich mit Thomas Müller erneut ein verdienter Profi, eine „lebende Legende“ und „Ikone“, wie von seinem Trainer Thomas Tuchel bezeichnet, auf den letzten Abschnitten seiner Karriere beim FC Bayern München. Das Dilemma des Weltmeisters von 2014 und seines Vereins ähnelt dabei frappierend der Situation im Februar 1979: Thomas Müller ist nach wie vor willens und fähig, auf höchstem Niveau auf dem Platz zu performen, aber nicht immer wird diese Fähigkeit noch in vollem Umfang benötigt. Die frühere Maxime seiner Trainer, die besagte, dass „ein Thomas Müller immer spielen muss“, hat längst ihre Gültigkeit verloren. In den letzten Wochen und Monaten musste der Mann aus Weilheim in Oberbayern sich daran gewöhnen, nur noch gelegentlich zum Einsatz zu kommen. Sein Ausspruch „Ich habe weiterhin Spaß daran, auf dem Platz zu stehen – ich hoffe, das sieht man“, klingt mittlerweile beinahe wehmütig und leicht verzweifelt. Im Sommer 2000 stieß Müller als D-Jugendlicher zum Rekordmeister, 2008 feierte er sein Profidebüt, und inzwischen zählt er zweifellos zu den größten Spielern in der Geschichte des Vereins. Noch ist Sportdirektor Christoph Freund optimistisch, dass sich alles zum Positiven wenden wird: „Wir werden eine gute Lösung für alle Beteiligten finden.“ Doch die Frage, wie diese Lösung schlussendlich aussehen könnte, damit sowohl Thomas Müller als auch sein Club, der FC Bayern München, mit einem zufriedenen Lächeln aus der verzwickten Lage herauskommen können, muss erst noch nachhaltig und überzeugend beantwortet werden. Denn bereits die aktuelle sportliche Situation bereitet Müller Kopfschmerzen, wie nicht nur Lothar Matthäus richtig bemerkt: „Thomas bekommt seine Einsatzzeiten nicht. Ich glaube, das wurmt ihn am meisten, obwohl er sich das nach außen nicht anmerken lässt. Es brennt innerlich in ihm.“ Es wird auch in Köln in ihm gebrannt haben. Und das ist überaus verständlich, wenn man sieht, dass sein Trainer Thomas Tuchel am vorigen Freitag beim Abstiegskandidaten in Köln zum ersten Mal seit 13 Jahren die Startformation des FC Bayern bis zum Abpfiff durchspielen ließ. Damit blieb einmal kein Platz für Müller beim Rekordmeister auf dem grünen Rasen. Thomas Tuchel versucht die kniffelige Lage so gut es geht zu moderieren – doch letztlich hat auch er in dieser komplizierten Situation keinen einfachen Ausweg für den heiklen Fall Thomas Müller parat. Der Trainer kann seinen verdienten Spieler nicht behandeln wie einen Großteil der anderen Akteure beim Rekordmeister, doch er muss natürlich auch die sportliche Gesamtlage seiner Mannschaft im Kopf und im Griff behalten. In diesem Zusammenhang, der nach den vielen Monaten mit Tuchel beim FC Bayern nun wohlbekannt ist, sieht er seinen Spieler Müller offensichtlich nicht als festen Bestandteil der Startelf des amtierenden Meisters. Daher sind alle Bemühungen, dies zu moderieren, letztendlich zum Scheitern verurteilt. Es sollte jedoch Tuchel sicherlich nicht vorgeworfen werden, dass er durch seine ständigen Bemühungen um Anerkennung für Müller eine Art „Wegloben“ betreibt.
Komplizierte Situation

Im Februar 1979 hatte Gerd Müller praktisch spontan beschlossen, sich vom FC Bayern München zu trennen. Möglicherweise nagte auch damals bereits ein länger anhaltender Konflikt zwischen ihm und seinem Trainer am Rekordstürmer. Dass das Fass dann mit seiner unerwarteten Auswechslung endgültig überlief, empfand Müller wahrscheinlich letztendlich als Befreiung. Denn im Jahr 1979 gab es für keine der Parteien eine „gute Lösung“. Das Ende war auch damals bereits vorherbestimmt.
In den kommenden Tagen und Wochen wird Thomas Müller wohl darüber nachdenken müssen, ob ihm die neue Position als Ergänzungsspieler im Kader des FC Bayern München genügt, oder ob er möglicherweise schon zur Winterpause einen Neuanfang bei einem anderen Verein ins Auge fasst – insbesondere im Hinblick auf die Europameisterschaft 2024 im eigenen Land. Denn nach den vergangenen Monaten scheint klar: Unter Trainer Thomas Tuchel wird er seine aktuelle Rolle nicht überwinden können. Dennoch wird ein Wintertransfer für den FC Bayern aus zwei Gründen wahrscheinlich nicht in Betracht gezogen werden: Erstens gestaltet es sich schwierig, einen ebenbürtigen Ersatz zu finden. Zweitens dürften die Fans voraussichtlich vehement dagegen protestieren. Für Müller scheint es momentan wohl die einzige Option zu sein, unter den gegenwärtigen Umständen das Beste herauszuholen und tapfer auf die seltenen Chancen zu hoffen. Ob dies letztendlich ein angemessener Abschluss für die beeindruckende Karriere des Weltmeisters von 2014 beim FC Bayern München ist, liegt am Ende in der Entscheidung von nur einer Person: Thomas Müller selbst.