Michael Schulte-Markwort ist einer der renommiertesten Kinder- und Jugendpsychiater in Deutschland. Im Interview spricht er über mögliche psychische Auswirkungen von Armut auf Kinder, was das Verhalten der Eltern positiv bewirken kann, und die Stellung von Kindern in der Gesellschaft.
Herr Schulte-Markwort, was macht Armut mit Kindern?
Inwieweit Armut negative Auswirkungen auf Kinder hat, hängt sehr davon ab, in welchem emotionalen Kontext Kinder aufgehoben sind. Wenn Eltern ausreichend psychisch gesund sind, wenn sie liebevoll sein können, dann ist es wahrscheinlich, dass Armut keine so große Rolle spielt. Das ist aber auch altersabhängig. Kinder können sich dann genauso gut aufgehoben fühlen wie bei wohlhabenderen Familien. Der Satz „Geld alleine macht nicht glücklich“ gilt auch hier. Das Kind muss gut eingebettet sein. Dann hängt es weiterhin sehr davon ab, in welchem sozialen Umfeld die Kinder aufwachsen, in welcher Schule sie sind, wie groß der Druck durch Gleichaltrige ist, sich in Designerkleidung zu kleiden, und ähnliche Dinge. Dann kann das schon sein, dass das bedeutsamer wird. Grundsätzlich kann man aber davon ausgehen, dass Kinder extrem anpassungsfähig sind und erst mal das für normal und natürlich halten, was sie zu Hause vorfinden.
Können denn Kinder sich dem Druck in der Schule wirklich entziehen, auch wenn zu Hause die liebevolle Umgebung gegeben ist?
Das hängt davon ab, wie groß der Druck ist. Und hängt auch davon ab, welche Atmosphäre Lehrer schaffen, wie sie das unterstützen. Wir haben schon den Eindruck, dass, auch unabhängig von Armut oder Wohlstand, insbesondere Jugendliche sich immer mehr wünschen, dass es Schuluniformen gibt. Ein aktuelles Wort ist „Outfit struggle“ (Kampf mit dem, was man anziehen soll, Anm. d. Red.), was viele Jugendliche beschäftigt, Mädchen mehr als Jungen. Das ist schon auch eine schreckliche Dimension.
Würden Sie Schuluniformen befürworten?
Ja, ich denke, dass das den Druck rausnimmt.
Doch es gibt auch die Freizeit. Da haben Kinder Smartphones, Markenkleidung, coole Sneaker …
Dann kann das schon erhebliche Auswirkungen haben. Diesem Druck, es sozusagen materiell zu beantworten, sind natürlich alle Kinder ausgesetzt. Bei den Kindern, die das nicht beantworten können, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind das Kinder, die sich dann als Jugendliche schwören: „Ich mach das anders, ich will unbedingt erfolgreich werden, ich will meinen Kindern was anderes bieten“. Oder es sind Jugendliche, die dann das Gefühl haben, dass sie benachteiligt sind. Das kann Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl haben. Dann wachsen sie nicht so gesund und selbstbewusst heran.
Sie sagten mal, dass Armut bei Kindern Stress auslösen und auch Depressionen und Schlafstörungen hervorrufen kann.
Armut kann eine ständige Stressquelle sein und unspezifische Symptome auslösen. Das ständige Gefühl, ich komme zu kurz, die Welt ist ungerecht zu mir, die Welt sieht mich nicht richtig, ich werde nicht berücksichtigt, ich habe es schwerer. Aber ich muss sagen, dass Armut der Familien in Therapien eher eine nachgeordnete Rolle spielt. Das ist etwas, was die Kinder vielleicht eher am Rande beschäftigt. Es hängt auch davon ab, wie man Armut definiert. Man kann davon ausgehen, dass mit allen Unterstützungssystemen Familien hierzulande zumindest nicht hungern müssen, wenn die Eltern vernünftig damit umgehen. Das kann natürlich auch mal anders sein.
Es gibt einen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der besagt, dass Kinder aus armen Verhältnissen es mittlerweile seltener schaffen, sich als Erwachsene aus dieser Spirale zu befreien. Haben Sie da Erfahrungen?
Wir sind ja nicht mehr zuständig für Erwachsene, das ist eher ein Zufall, ob wir die Jugendlichen später noch sehen. Aber es ist eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, dass die Durchlässigkeit der sozialen Stufen kleiner wird. Es ist ja nach wie vor so, dass alle zu Recht beklagen, dass Schulabschluss und sozioökonomische Verhältnisse eng miteinander zusammenhängen. Da hat sich in den letzten zehn Jahren offenbar auch wenig verändert.
Arbeiten Sie auch mit Eltern aus unteren Einkommensschichten?
Das sind Erfahrungen von früher, ich arbeite mittlerweile nicht mehr mit diesen Familien zusammen. Was ich von solchen Eltern aber kenne, ist, dass sie Schuldgefühle haben und sich ihren Kindern gegenüber schwertun, weil sie ihnen natürlich lieber etwas anderes bieten wollen. Das sind natürlich schwere Bedingungen für Eltern. Da ist viel soziale Arbeit gefragt.
Die liebevolle Oase, in denen Kinder die Armut nicht so spüren – ist die denn überhaupt die Realität?
Das kann ich so pauschal nicht beantworten, das ist extrem unterschiedlich. Es gibt natürlich auch viele Familien, die innerhalb des medizinischen Systems gar nicht auftauchen. Weil Eltern überfordert sind, weil sie sich nicht gut auskennen oder sich nicht trauen, oder weil die Schwellen zu hoch sind. Deshalb gehe ich davon aus, dass prozentual arme Familien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wahrscheinlich unterrepräsentiert sind.
Was müsste denn passieren, damit es Kindern hierzulande besser geht?
In vielen Bereichen gilt, dass Kinder uns als Gesamtgesellschaft nicht besonders wichtig sind. Das sieht man an der Personalausstattung der Kitas, an dem Reparaturstau in Schulen, an der Klassengröße in Schulen, an der defizitären Pädagogik in deutschen Schulen und an dem aktuellen Pisa-Ergebnis. Wir legen einfach nicht so großen Wert darauf. Wir müssten einen gesamtgesellschaftlichen Konsens darüber herstellen, wie wichtig uns Kinder sind. Und dann würden sich sehr schnell Lösungen finden, wie man in einer Solidargemeinschaft so etwas lösen kann.