Christian Neumann, Geschäftsführer des Kinderschutzbundes Landesverband Berlin, spricht im Interview über die Auswirkungen von Kinderarmut auf die Gesellschaft, warum die geplante Kindergrundsicherung unzureichend ist und was sich in Berlin für Kinder verbessert hat.
Herr Neumann, wie geht es Kindern in Deutschland?
Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt. Dennoch ist bundesweit je nach Wohnort jedes vierte oder fünfte Kind von Armut bedroht. Die materielle Versorgung wird für Menschen, denen es finanziell eh nicht gut geht, verstärkt unter anderem durch die Inflation, zunehmend schwieriger. Das betrifft etwa Ausgaben für Schulmaterial, kulturelle Aktivitäten und Gesundheits- und Bildungsangebote. Diese Eltern haben oft nicht die Möglichkeit, ihren Kindern den Musikunterricht oder andere Freizeitaktivitäten zu bezahlen. Und es gibt da sicherlich auch noch eine hohe Dunkelziffer. Armut ist sehr schambehaftet. Viele Menschen, die theoretisch Anspruch auf Sozialleistungen haben, machen diesen aber nicht geltend, weil sie sich schämen.
Leiden Kinder in Deutschland dennoch auf hohem Niveau?
Deutschland zählt im internationalen Vergleich zu den reichsten Ländern, aber im Verhältnis zu diesem Reichtum gibt es erstaunlich viel Kinderarmut. Ihre Frage gefällt mir deshalb nicht, weil sie impliziert, dass wir alles so lassen können, wie es ist. Aber genau das können wir uns nicht leisten. „Die Kinderarmut von heute ist der Fachkräftemangel von morgen“, so hat es Heinz Hilgers, der ehemalige Präsident des Kinderschutzbundes treffend auf den Punkt gebracht. Seit vielen Jahren führen wir den gleichen politischen Diskurs, aber es passiert nichts. Man kann sagen, dass viele politische Bemühungen zum Abbau von Kinderarmut gescheitert sind. Es ist einfach beschämend, dass in einem Land wie Deutschland so viele Kinder in Armut aufwachsen müssen.
Welches sind in Deutschland in Bezug auf Kinderrechte aktuell die größten Baustellen?
Zu den Kinderrechten gehören laut UN-Kinderrechtskonvention das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Beteiligung und das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit. Die Erfüllung dieser Rechte hängt direkt mit den finanziellen Möglichkeiten der Eltern zusammen. Haben die Eltern kein Geld, kann das Kind vielleicht kein Auslandsjahr machen oder es stellt sich schon vorher die Frage: Kann ich mir den Wechsel aufs Gymnasium überhaupt leisten?
Deswegen hat für uns die Bekämpfung von Kinderarmut höchste Priorität. Das Aufwachsen in Armut zieht viele Folgeprobleme nach sich. Armut wird quasi vererbt. Viele Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien schaffen es nicht, diesen Kreislauf zu durchbrechen.
Was ist das für ein Kreislauf?
Es hat mit der Verteilung von Reichtum und Armut zu tun, wie es auch der Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat. Da wird von der Hand in den Mund gelebt, da wird von Monat zu Monat gelebt. Das heißt, die Kinder wachsen von vornherein im Defizit auf. Sie erleben das, was sie sich nicht leisten können. Das kulturelle Kapital ist beschränkt: Zoo-, Theaterbesuche und andere Erfahrungen fehlen. Auch das soziale Kapital ist betroffen. Häufig sind die Kinder, wie auch die Eltern, entsprechend weniger vernetzt, leben deutlich zurückgezogener.
Ab wann ist ein Kind eigentlich „arm“?
Kinder sind per Definition nicht arm, es sind die Eltern. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet.
Derzeit kommen auf Familien weitere Probleme zu. Neben der Inflation explodierende Mieten. Aber Kinder in beengten Wohnverhältnissen haben weniger Platz zum Spielen und Lernen. Was tun?
Hier ist die Wohnungspolitik gefragt. Der Staat muss dafür sorgen, dass Menschen mit geringem Einkommen Zugang zu Wohnungen in ausreichender Größe haben.
Inwieweit könnte die geplante Kindergrundsicherung die Situation der Kinder und ihrer Familien
verbessern?
Wir vom Kinderschutzbund sind sehr unzufrieden mit dem aktuellen Gesetzentwurf. Sowohl die Höhe der Leistungen betreffend als auch den Zugang zu Leistungen.
Wenn die Kindergrundsicherung so umgesetzt wird, dann wird es für die Familien nicht einfacher, Gelder zu beantragen, sondern schwieriger.
Auch die Höhe der Leistungen müsste im Hinblick auf das kindliche Existenzminimum angepasst und neu berechnet werden. Idealerweise unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Weitere Verbesserungen sind nötig, damit auch Alleinerziehende profitieren. Die Leistungen für Bildung und Teilhabe (BuT) müssten pauschal ausgezahlt werden, wobei klar ist, dass die aktuelle Summe von 15 Euro im Monat in keinem Fall ausreicht, um kulturelle Aktivitäten der Kinder zu finanzieren, etwa Musikunterricht. Auch müssten die Leistungen für alle gleichermaßen zugänglich sein. Kinder im Asylbewerberleistungsgesetz sind aktuell ausgeschlossen. Insgesamt befürchten wir ein Bürokratiemonster und fordern dringend, dass bei der Kindergrundsicherung nachgebessert wird.
Jenseits der finanziellen Situation der Familien gibt es weitere Herausforderungen wie den Erzieher- oder Lehrermangel. Inzwischen leben viele traumatisierte Kinder aus Kriegsgebieten in Deutschland. Gibt es die entsprechende Infrastruktur, ihnen zu helfen?
Seit 2015 kommen Kinder aus den unterschiedlichsten Ländern zu uns, die versorgt werden müssen. Für die Integration und Teilhabe dieser Kinder fehlen die entsprechenden pädagogischen Fachkräfte. Was die Bildung betrifft: Pro Woche fallen an Deutschlands Schulen durchschnittlich eine Million Unterrichtsstunden aus.
Berlin ist ein Sehnsuchtsort für Menschen aus der ganzen Welt. Aber auch für Kinder? Drogen auf Spielplätzen, marode Schulen mit zu wenig Lehrkräften.
Berlin hat besondere Probleme, ist aber eine sehr lebenswerte Stadt, die für Menschen in Armutslage immer schwieriger wird. Wir haben es mit sehr hohen, weiter steigenden Mieten zu tun. Die Gentrifizierung ist massiv spürbar. Wir als Berliner Kinderschutzbund erleben, wie schwer es für Familien ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Aber es hilft nicht, wenn immer vom sozialen Brennpunkt gesprochen wird, das ist mit Stigmatisierung verbunden. Die Sauberhaltung von Spielplätzen wiederum ist eine öffentliche Aufgabe. Die Polizei hat dafür zu sorgen, Drogen von Plätzen fernzuhalten, wo Kinder sind.
Was hat sich in den letzten Jahren für Kinder verschlechtert und was verbessert?
Ich will jetzt mal etwas Positives sagen. Es heißt immer, Berlin sei so chaotisch. Aber inzwischen profitieren alle Berliner Kinder von einem kostenfreien Mittagessen in der Schule, einem kostenfreien Kitaplatz und einem kostenfreien BVG-Ticket. Außerdem gibt es an Berliner Schulen inzwischen das Recht auf Ganztagsbetreuung. Also, was der Bund erst umsetzen will, gibt es in Berlin schon. Neben den klassischen Angeboten bieten wir vom Kinderschutzbund als freier Träger finanziert vom Land Berlin auch eine Vielzahl von informellen Bildungsangeboten wie Theater- oder Rap-Workshops.
Dennoch: In Berlin ist jedes vierte Kind von Armut betroffen. Was bedeutet das für eine Gesellschaft?
Das bedeutet, dass wir einem Viertel der Kinder Chancen verweigern. Das fällt letztendlich auf die Gesellschaft zurück. Menschen, die später nicht selbstständig in Lohn und Brot leben können, sind eine gesellschaftliche Belastung. Außerdem müssen wir uns die Frage stellen: Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die so viele Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen und deren Potenzial zurücklässt?