Kinder aus einkommensschwachen Familien finden im „Schutzengel-Haus“ im Südwesten Berlins einen Ort der Ruhe, an dem sie ein warmes Mittagessen erhalten, gefördert werden – und Selbstvertrauen lernen.
Auch in der eigentlich besinnlichen Vorweihnachtszeit geht es nicht besonders ruhig im großen Gemeinschaftsraum des Schutzengel-Hauses zu. Das soll es auch gar nicht! Denn hier verbringen nach der Schule täglich 20 bis 25 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 17 Jahren ihre Freizeit. Und sie genießen das. Während die einen auf Matten und zwischen bunten Kissen einfach nur herumtoben, kämpfen andere beim Tischhockey energisch um Sieg und Niederlage. Wer Ruhe haben will, zieht sich in eine stille Ecke zurück, um Hausaufgaben zu machen, einfach nur mal abzuschalten oder sich mit anderen Kindern und Erziehern zu unterhalten.
Aber natürlich weihnachtet es auch hier an allen Ecken und Kanten: der überdimensional lange Tisch, an dem gemeinsam zu Mittag gegessen wird und auf dem nachmittags frisches Obst und gesunde Snacks für jeden bereitstehen, ist festlich geschmückt. Tannenzweige, Glitzerkugeln, Lichterketten und Sterne an den großen, bis zum Fußboden reichenden Fensterscheiben sind stimmungsvoll arrangiert.
Freiwillige Helfer packen Weihnachtstüten
Besondere Aufmerksamkeit und Neugier aber wecken die verheißungsvollen Weihnachtstüten, die hier und dort an den Wänden abgestellt sind. Die sind später für die Kinder im Schutzengel-Haus bestimmt, aber eben nicht nur für sie. 2.000 dieser prall gefüllten Tüten wurden in den letzten Tagen hier und von freiwilligen Helfern in der großen Lagerhalle einer Spedition gepackt. Denn mit den bunten Tüten haben die Initiatoren dieser besonderen Weihnachtsaktion in der verbleibenden Zeit bis zum Fest noch etwas ganz Besonderes vor.
Das Schutzengel-Haus liegt im Südwesten Berlins. Der Bezirk Steglitz gehört zu den gutbürgerlichen Gegenden der Stadt, kein Problemkiez wie Neukölln oder Hellersdorf. Ursprünglich war diese Anlaufstätte für Kinder aus sozial benachteiligten Familien im schwierigen Stadtteil Wedding geplant, aber eine Spielothek bekam in der passenden Immobilie den Vorzug. Einarmige Banditen statt Kinderbetreuung – ausgerechnet! In Steglitz hingegen klappte es dann vor zehn Jahren dank einer Vermieterin mit einem Herz für Kinder. Machen die eventuell Krach? Sollen sie doch. Das neue Angebot sprach sich schnell herum. Werbung war für das Schutzengel-Haus nicht nötig, denn trotz anfänglicher Vorbehalte mancher Erwachsener kamen die Kinder ganz von alleine. Weil selbst in besseren Wohngegenden für viele Kinder fehlt, was eigentlich normal sein sollte: intakte Familien, Bildung, Ermutigung, Kultur- und Freizeitangebote und ausreichend finanzielle Mittel für soziale Teilhabe. Während zwischen 2014 und 2017 noch die meisten Kinder ins Schutzengel-Haus kamen, nimmt ihre Zahl mittlerweile ab. Ein gutes Zeichen? Keine Problemlagen mehr? Im Gegenteil. Die Mieten sind nicht nur im Südwesten Berlins derart gestiegen und unbezahlbar geworden, dass sozial Schwache und zunehmend auch der Mittelstand an den Rand der Stadt oder ins Umland vertrieben werden.
Bianca Sommerfeld, Geschäftsführerin des Schutzengelwerks und – wie sie selbst sagt – engagierte Löwenmutter von drei Kindern, ist fast seit Anfang an mit voller Kraft dabei. Ihr und ihrer Familie ging und geht es gut. Deshalb fand die 51-Jährige es unerträglich, dass es vielen anderen Kindern einfach schlechter geht. Zunächst gründete sie vor zehn Jahren den Verein Zuckerbaum. Erkrankt ein Kind mehr oder minder schwer, wird dem gesunden Geschwisterkind sehr oft weniger Aufmerksamkeit geschenkt, es fühlt sich zurückgesetzt. Darum kümmert sich die Initiative und hilft dann auch. Wenige Monate später entstand das Projekt Kinderschutzengel, zu dem Bianca Sommerfeld wechselte und sich heute mit sechs weiteren, mehrheitlich Teilzeitkräften für das Wohl der benachteiligten Kinder mit aller Kraft einsetzt. Mit dem Zuckerbaum-Verein wird erfolgreich zusammengearbeitet.
In Ruhe Hausaufgaben machen und essen
Alle Kinder, die regelmäßig das Schutzengel-Haus besuchen, haben ihre eigene Geschichte. Sie leben mit ihren Eltern oder nur mit dem Vater oder der Mutter zusammen, sie haben einen Migrationshintergrund oder auch nicht, sie alle aber kommen aus sozial schwachen Verhältnissen. Zu Hause ist das Geld knapp, auch wenn beide Eltern arbeiten. Es fehlt an Zeit für die Kinder, es fehlt an Interesse, Aufmerksamkeit und oft an ausreichender Fürsorge und Liebe. Solche Notlagen müssen im Kinderschutz-Haus nicht durch Einkommens- oder Sozialhilfebescheide nachgewiesen werden. Bianca Sommerfeld formuliert es vollkommen klar. „Wenn ein Kind zu uns kommt, dann hat es ein Bedürfnis. Das alleine zählt und dann ist es unser Schutzengel-Kind.“
Ohne Frühstück zur Schule zu gehen, unkonzentriert mehr schlecht als recht dem Unterricht folgen zu müssen, an Klassenfahrten nicht teilnehmen zu können oder wegen ihrer Billigklamotten gemobbt zu werden – diese und ähnliche Erfahrungen haben manche Kinder gemacht. Umso mehr freuen sie sich, im Schutzengel-Haus eine warme Mahlzeit zu bekommen und zu lernen, auch mit begrenzten Mitteln vernünftig einzukaufen, Grünzeug zu schnibbeln und Salat zu zubereiten. Hier können sie in Ruhe ihre Hausaufgaben machen, sich helfen lassen und ihre Freizeit frei gestalten. Lesen, malen, basteln, spielen, Natur erleben – so können sie sich selbst erfahren und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zurückgewinnen. Wenn ihnen zu Hause und in der Schule immer wieder bescheinigt wird, welche Versager sie doch sind, dann können sie im Schutz des Kinderhauses erleben, dass ihre Person, ihre eigenen Gedanken und Ideen jede Aufmerksamkeit wert ist, erst einmal ohne Wenn und Aber. So werden sie von den Mitarbeitern der Einrichtung jeden Tag reichlich beschenkt – mit Hilfe, Geduld und Ermutigung. Umso besser, wenn die Eltern mitziehen und die angebotene Hilfe konstruktiv annehmen. Doch das ist längst nicht selbstverständlich. Gerade dann und viel wichtiger als rein materielle Hilfe ist es für die Mitarbeiter zu den Kindern ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, verlässlicher Ansprechpartner zu sein, ihre Sorgen und Nöte ernst zu nehmen und als Vorbild zu handeln. Es geht also auch anders, als manche Eltern es ihren Kindern miserabel vorleben.
Einige schaffen es später nicht
Das Schutzengel-Haus ist aber kein Kuschelzoo. Lernen ist wichtig, Ausbildung ist wichtig, ohne Eigenverantwortung geht es nicht. Doch statt des „Du musst auf jeden Fall“ heißt es hier „Du kannst es auch. Versuch es doch einmal“. Einige, die das Kinderhaus verlassen, schaffen es nicht. Sie fallen in ein Loch. Irgendwie schlagen sie sich durch, arbeiten schwarz oder werden alimentiert, ihre Eltern konnten oder wollten ihnen kein Vorbild sein. Unfähig, sich durchzuboxen, werden sie immer von anderen abhängig sein. Vielleicht empfinden sie das als Demütigung, vielleicht richten sie sich damit auf Dauer ein. Aber es geht auch anders. Schirin, die vor vier Jahren mit ihrem Bruder von ihrem Vater aus der Türkei nach Deutschland geholt wurde, weil ihre Mutter sich nicht mehr um die Kinder kümmern konnte, sprach kein Wort Deutsch, als sie in Berlin eine neue, vorerst fremde Heimat fand. Jeden Tag kam sie ins Schutzengel-Haus, wurde hier ermutigt, lernte und hat kürzlich eine Ausbildung als Zahntechnikerin begonnen. Vielleicht will sie später Abitur machen. So geht es eben auch.
Ermöglicht wird die vielfältige Arbeit des Schutzengel-Hauses nur durch Spenden. Zwar kooperiert man mit Jugendämtern und anderen Einrichtungen, wird bekannter durch Mundpropaganda – doch staatliche Unterstützung, Gelder von der Stadt oder vom Bezirk gibt es nicht. Jede noch so kleine Zuwendung ist also willkommen, aber ohne Spenden von Großunternehmen, Firmen oder Handelsketten geht es nicht. Noch ist es möglich, zu expandieren. 2021 wurde im Bezirk Pankow ein Lernprojekt gestartet, in Spandau Schulunterstützung für circa 30 Mädchen organisiert, ebenso wie für 80 bis 100 Kinder und Jugendliche im brandenburgischen Eberwalde. Das lässt hoffen und eigentlich könnte der Artikel hier enden.
Aber da war doch noch die Sache mit den Weihnachtstüten. Wohin mit den ganzen 2.000 Überraschungen, was ist da drin, wer bekommt sie und wer soll das denn überhaupt bezahlen? Die meisten Weihnachtstüten werden in diesem Jahr quer durch die ganze Stadt an ausgewählte Ausgabestellen der Berliner Tafel verteilt. Auch im Schutzengel-Haus und in dessen Zweigstellen werden sie verschenkt. Ihr Inhalt: Filzstifte, Mal- und Lesebücher, Kuscheltiere, Spielzeug, Schokolade. Alles für Kinder, die ansonsten am Heiligabend eher leer ausgehen würden.
Finanziert wird diese Aktion durch Spenden, doch bislang ist erst die Hälfte der Kosten gedeckt. Weitere Spenden sind für diesen Zweck also durchaus erwünscht. Und vielleicht werden auch auf diesem Wege Kinder und Eltern auf die Arbeit und die kostenlosen Angebote der Kinderschutz-Engel aufmerksam gemacht. Das wäre doch gar nicht schlecht, oder?