Als FORUM-Autor Axel Svehla zu einer Mitsing-Veranstaltung überredet wird, ist die Begeisterung erst mal nicht so groß. Doch dann ändert sich seine Meinung bei „Schalala – das Mitsingding“ überraschend schnell.
Meine Freundin kommt manchmal auf höchst eigenartige Ideen. Eines Tages eröffnet sie mir, dass wir gemeinsam zu „Schalala – das Mitsingding“ gehen. Das klingt weniger nach einer Einladung, sondern eher wie ein Marschbefehl. Was soll das sein, „das Mitsingding“? Nie gehört. Ich stöbere im Netz und meine schlimmsten Vorahnungen werden bei Weitem übertroffen. Beim „Schalala“ treffen sich in der Berliner UfA-Fabrik, einem stadtbekannten, eher alternativen Veranstaltungsort, mehrmals im Jahr einige Hundert Menschen, um gemeinsam aus lauter Kehle deutsche Schlager, Schnulzen und englischsprachige Popsongs vorwiegend aus den 60er- und 70er-Jahren zu singen. Auch an anderen Orten in der Stadt wird das Mitsingding zelebriert. Ein Massenkaraoke der ganz besonderen Art, musikalisch angeführt von zwei quicklebendigen Frauen, die während und nach jeder Aufführung frenetisch gefeiert werden.
Erst mal nur mitsummen
Aufgewachsen mit Eric Clapton, Jimi Hendrix und den Beatles, sind all meine Abwehrinstinkte in Alarmbereitschaft versetzt und ich führe gegenüber meiner Freundin einige meiner unbewältigten Kindheitstraumata ins Feld: Die 60er-Jahre, das waren für mich kurze Lederhosen, kratzende Kniestrümpfe, Lagerfeuer, Mundorgel, Bundesjugendspiele, Mettigel, Käsewürfel, verkniffene Tanten an der Kaffeetafel, der Geruch von 4711, Plattenwechsler und die erschütternden, herzzerreißenden Gesänge von Heino und Heintje. Ich denke daran, mir für den vorgesehenen „Schalala“-Abend eine hochinfektiöse Krankheit zuzulegen, aber meine Freundin kennt kein Erbarmen.
Noch bevor das Mitsingding beginnt, ist der Saal fast bis zu den letzten Reihen gut gefüllt. Ein vorwiegend weibliches Publikum ab Mitte 40, manche in festen Gruppen verabredet, erwartet freudig den Beginn der großen Show. Während die Besucher im abgedunkelten Saal auf ihren Stühlen gespannt hin und her rutschen und schnell noch Smartphone-Fotos gemacht werden, liegt die Bühne im gleißenden Licht der Scheinwerfer. Rechts steht ein Klavier, in der Mitte ist ein Mikrofon aufgebaut und auf einer Leinwand im Hintergrund steht in bunter Schrift, worum es in den kommenden zwei Stunden geht. Mit den ersten Takten der Eröffnungsmelodie beginnen die Ersten rhythmisch zu klatschen. Im ganzen Saal braust Applaus auf, als die beiden Künstlerinnen gut gelaunt die Bühne betreten und das Publikum willkommen heißen.
Der Einstieg ins Programm wird den Besuchern leicht gemacht. Die zuerst eingespielten Lieder sind dem Publikum wohlbekannt und so sinkt sehr schnell die Hemmschwelle, die ersten Titel zumindest schon mal mitzusummen. Wer mit verschränkten Armen vor der Brust hartnäckig und aus lauter Scheu stumm bleibt und als Ausrede anführt, er kenne den Text der angespielten Melodie doch gar nicht, dem wird von Anfang an geholfen. Denn auf der gut lesbaren Leinwand oberhalb der Bühne ist der entsprechende Liedtext zu lesen, passgenau zu jeder Strophe. Auch mir fällt nun kein Grund mehr ein, schweigend auf meinem Stuhl auszuharren. Im Gegenteil. Es dauert keine Viertelstunde und die ansteckende Atmosphäre guter Laune ergreift auch mich.
Dabei sind es nicht nur solch bekannte Schlager und Evergreens wie „Ohne Krimi geht die Mimi nicht ins Bett“, „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ oder „Waterloo“, die zum Mitsingen animieren, sondern es sind vor allem die beiden ausgelassenen Damen auf der Bühne, die das Publikum im Griff haben. Wer sind sie überhaupt, was haben sie gelernt und wie kamen sie auf die „Schalala“-Idee?
Lernten sich bei einer Tango-Show kennen
Stefanie Bonse (59), strohblonde Frisur, verschmitztes Lächeln, schlagfertig und voller Witz, mit Gitarre und als Vorsängerin auf der Bühne, ist ebenso wie Marie-Elsa Drelon (52), die virtuose, gelassene Heiterkeit ausstrahlende Pianistin, Profi durch und durch. 2009 standen sie erstmals gemeinsam auf der Bühne des GOP Varieté-Theaters in München und die Chemie zwischen ihnen passte von Anfang an. Wohl auch, weil beide aus einem überaus musikalischen Elternhaus kommen.
Stefanie Bonse, aufgewachsen im Münsterland und die Jüngste von sieben Geschwistern, wurde in ihrer Kindheit beeinflusst von einem Klavier spielendemnVater und einer mit der ganzen Familie singenden Mutter. „Bei uns zu Hause lagen Gitarren überall griffbereit“, erinnert sie sich und denkt auch an ihren ersten Berufswunsch: Sängerin wollte sie unbedingt werden, und da half ein liberales Elternhaus, erfüllt von Musik und Gesang. „Sie singen nicht besonders schön, aber Sie halten den Ton“, hieß es bei den Nachbarn. Nach dem Abitur studiert Stefanie zunächst Englisch und Musikwissenschaften, geht 1985 nach Berlin, sattelt dann um. Sie macht eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Aber die Musik lässt sie nicht los, auch das Varieté begeistert sie, und in der Westberliner Enklave findet sie schnell Kontakte, Auftrittsmöglichkeiten und die Chance, Neues gemeinsam auszuprobieren. Die Physiotherapie hängt sie an den Nagel. Heute spielt und unterrichtet sie klassische Gitarre, Percussion, Gesang, schreibt eigene Songs und tritt im Musikcomedy-Duo Green Gift auf.
Marie-Elsa Drelon ist die Älteste von vier Kindern, die Mutter Irin, der Vater Franzose, und auch sie wächst in einer musikalischen Familie auf, in einer Kleinstadt nördlich von Paris. Schon früh entdeckt sie ihre Leidenschaft, beginnt im Alter von neun Jahren Klavier zu spielen und vervollkommnet ihre Kunst nach dem Abitur durch ein vierjähriges Klavier- und Cembalostudium in Paris. 1993 verschlägt es sie der Liebe wegen nach Berlin. Als professionelle Musikerin begleitet sie Sänger, spielt argentinischen Tango in verschiedenen Ensembles, erkundet Zwischenräume, experimentiert auch mit Popmusik und avanciert zur Theatermusikerin. Der Klassik bleibt sie stets verbunden und übt nach wie vor täglich mehrere Stunden.
2009 lernen sich Stefanie und Marie-Elsa im Rahmen einer Varieté- und Tango-Show kennen und schätzen sich gegenseitig von Anfang an. Marie-Elsa ist begeistert von Stefanies komödiantischer Art, ihrer Geradlinigkeit und dem Verzicht auf jedwede Diva-Allüren. Stefanie schätzt Marie-Elsas hintergründigen Humor, bewundert ihr perfektes Klavierspiel, und zwischen ihnen entspannt sich ein vollkommen unverkrampftes, produktives Verhältnis auf Augenhöhe. Ihre Einfälle befeuern sich gegenseitig, und ab 2015 steht fest: Wir machen was gemeinsam. Über einen Umweg wird die „Schalala“-Idee geboren.
Denn eine Freundin von Stefanie hatte in einem Krankenhaus für psychisch angeschlagene Patienten Musik gemacht und dies war der Kern des „Schalala“-Konzepts: musikalisch etwas mit Leuten zu veranstalten und erleben, sie einzubeziehen und zum Mitmachen animieren. Statt nur alleine in Kneipen rumzuhängen oder in digitaler Isolation zu vereinsamen, sollte das Gemeinschaftsgefühl der Leute wiedererweckt werden. „Da ist Singen doch das Einfachste“, sagt Stefanie. Und Marie-Elsa fügt hinzu: „Wir möchten die Leute glücklich machen.“ Einfach nur zuhören ist auch gut, Hauptsache, man ist erstmal dabei, der Rest kommt schon fast von alleine.
Die beiden Frauen auf der Bühne haben – was die Auswahl der Mitsing-Titel betrifft – auch den gleichen Geschmack und der Ablauf des Abends folgt einer durchdachten Dramaturgie. Bekannte Schlager und beliebte Interpreten, einfache Melodien und naiv-heitere Texte aus den 60er- und 70er-Jahren sind bewährte Eisbrecher: „Marmor, Stein und Eisen bricht“, „Dein ist mein ganzes Herz“, so was geht fast immer.
Ein Quiz für das Gemeinschaftsgefühl
Und im Selbstversuch bin ich nun auch bei der ersten Beatles-Nummer dabei, werde zunehmend mutiger und bin bis zur Pause ganz mittendrin. Das Publikum wird vor jeder Nummer direkt angesprochen. Wer kennt das Lied? Der hebt mal die Hand! Oder die Rollen werden verteilt. Die rechte Hälfte im Saal singt bitte den fortlaufenden Text, die linke Hälfte nur den Refrain. Viele Variationen werden ausprobiert. Und in der Pause dann ein Quiz.
Knifflige Fragen zu Interpreten und Titeln müssen beantwortet oder einfach nur angekreuzt werden. Man darf und soll auch beim Nachbarn abschreiben. Das stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Zu Beginn der zweiten Hälfte wird dann der Gewinner oder die Gewinnerin aus einer Sammelschüssel gezogen. Namentliche Vorstellung, glückliches Winken, aufbrausender Applaus. Als Gewinnerpreis wird eine besonders schöne Blume überreicht, und manchmal darf der Auserwählte in einem Ehrensessel direkt auf der Bühne Platz nehmen. Näher dran geht nicht.
Mitunter ist der eine oder andere Schlagertext ein bisschen zwielichtig, ein Interpret wie Hans Albers („Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“) durchaus ein umstrittener Künstler. Aber Kritik daran gab es bislang nicht, und sie wäre auch verfehlt. Denn Stefanie und Marie-Elsa bemühen sich, auch durch die Auswahl zum Beispiel griechischer Lieder oder bekannter europäischer Volkslieder den Horizont zu weiten und auch kritische Texte bekannter Sänger mit ins Programm zu nehmen wie „Ein ehrenwertes Haus“ von Udo Jürgens. Erhobene Zeigefinger wird man von den Frauen auf der Bühne niemals sehen, Gott sei Dank.
„Schalala“ soll in diesem Format bestehen bleiben, Stadien sollen nicht gefüllt werden und an Tourneen ist auch nicht gedacht. Vielleicht wird peu a peu das Bühnenprogramm mit abwechselnden Einlagen ergänzt, gut möglich auch, dass Special-Abende ausprobiert werden. Nur ein Interpret oder eine Gruppe an einem Abend. Mal schauen.
Gut gelaunt fahre ich an diesem Abend mit meiner Freundin zurück nach Hause. Irgendeine der mitgesungenen Melodien will mir nicht aus dem Kopf, aber ich erinnere mich an einen Großteil des Textes nicht mehr. Und nun habe ich einen triftigen Grund zu sagen: „Da müssen wir unbedingt noch einmal hin – der zweiten Strophe wegen!“