Das Buch, eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit, wurde schon häufig totgesagt. Die spanische Autorin Irene Vallejo holt nun in ihrer Hommage „Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern“ zum Gegenbeweis aus.
Frau Vallejo, in Ihrem Buch „Papyrus – Die Geschichte der Welt in Büchern“ haben Sie sich der antiken Welt gewidmet, die den meisten von uns heute ganz fern liegt. Wie kam es dazu?
Ich begann das Buch zu schreiben, als mein Kind mit schweren gesundheitlichen Problemen auf die Welt kam und fast ein Jahr im Krankenhaus bleiben musste. Das Buch war für mich eine Therapie. Ich schrieb, damit die Krankheit meines Sohnes mein Leben nicht völlig in Beschlag nahm. Ich dachte dabei weder an die Leser noch an den Verkauf und wusste nicht mal, ob ich es beenden könnte. Ich musste ja immer wieder ins Krankenhaus, sodass mir nur wenig Zeit blieb.
Wie geht es Ihrem Kind jetzt?
Unser Sohn ist jetzt neun Jahre alt und braucht noch besondere Aufmerksamkeit. Aber es geht ihm viel besser. Im Übrigen wollte ich das Buch nicht fertig schreiben, ich habe das Ende immer wieder hinausgezögert, weil ich dachte, dass ich in dem Moment, in dem ich fertig würde, meinen Traum, mich der Literatur zu widmen, aufgeben müsste.
Und dann wurde es ein großer Erfolg. In dem Buch geht es ja um die Welt der Antike. War das auch thematisch ein Versuch, der Realität zu entfliehen?
Ja, ich wollte mit dem Buch das ersetzen, was mir fehlte. Es geht um Reisen, um Abenteuer, alle möglichen geografischen und zeitlichen Wendungen und Sprünge. Ich habe versucht, die ganze Menschheit, die Bücher liebt, in Bewegung zu setzen, während ich mehr oder weniger zu Hause eingesperrt war.
Beim Lesen hat man eher den Eindruck, es ginge Ihnen darum, dem aktuellen Weltgeschehen etwas entgegenzusetzen.
Schon immer habe ich mich für die antike Welt interessiert. Aber ich glaube tatsächlich auch, dass es hilfreich ist, wenn wir uns selbst aus einer anderen Perspektive betrachten. Wenn wir weit zurückblicken, um unsere aktuellen Debatten zu analysieren und besser zu verstehen, was heute passiert. Ich denke, dass ein Großteil dessen, was wir heute sind, mit der Ethik, der Moral, den Begriffen und Lebensformen zu tun hat, die Griechen und Römer entwickelt haben.
Wollten Sie die Antike in irgendeiner Form retten?
Nicht unbedingt retten, aber zeigen, wie lebendig sie ist. Es gab ja eine große Beschäftigung mit der Antike, die sie als vorbildhaft idealisiert und die dunklen Kapitel dabei oft ausgeblendet hat. Was zu einer Art Sehnsucht führte, die meiner Ansicht nach gefährlich ist. Mich interessieren die Klassiker nicht, weil sie perfekt, sondern weil sie menschlich sind.
Was zeigen sie uns genau?
Sie halten uns einen Spiegel vor. Auch damals gab es politische Korruption, Immobilienspekulation, soziale Unterschiede oder die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität. Die Schönheit der philosophischen Texte und die Schwierigkeit, ihre Botschaften in die Praxis umzusetzen. Die Widersprüche, die Irrtümer und Makel großer Persönlichkeiten.
Muss man letztlich feststellen, dass sich alles wiederholt und die Menschheit aus der Geschichte nichts gelernt hat?
Ich denke, dass trotz allem Fatalismus, aller Kriege und allem, was passiert, doch eine Art Fortschritt zu beobachten ist hin zu einer Demokratisierung des Wissens. Ich bin mir zum Beispiel der Tatsache bewusst, dass ich in früheren Zeiten vermutlich als Frau kein solches Buch hätte schreiben können.
Es ist sicher gut, dass in Europa heute mehr oder weniger jeder Zugang zu Wissen und Büchern hat. Gleichzeitig werden immer mehr Bücher veröffentlicht, sodass es schwierig ist, die richtige Auswahl zu treffen.
Es ist kurios. In der antiken Welt gab es auch diese Überlegungen: dass es zu viele Bücher gibt, dass es unmöglich ist, alle zu kennen. Seneca empfahl, sich nicht zu verlieren, stattdessen gute Bücher mehrmals zu lesen. Das heißt, dass selbst in einer Epoche, in der viel weniger Bücher produziert wurden, die Denker klagten, dass es zu viele gibt, um alle in einem einzigen Leben lesen zu können. Und schon die Bibliothek von Alexandria brauchte einen Katalog, um sich zurechtzufinden. Im Übrigen wurden in der Antike unzählige Bücher produziert, von denen sich, soweit wir wissen, nur etwa ein Prozent erhalten hat.
Hat nur Qualität überlebt?
Je nachdem, was die früheren Kritiker für Qualität hielten, sie hatten natürlich auch ihre Vorurteile. In jedem Fall haben sich glücklicherweise Bücher erhalten, die durch die Jahrhunderte hindurch Generationen von Lesern begeistern können und heute in Sprachen übersetzt sind, die damals noch gar nicht existierten. Die Bücher, die überlebt haben, behandeln wahrscheinlich in perfekter Weise die großen Themen der Menschheit. Mit Erzähltechniken, die daraus sehr starke Texte machen. Sodass wir auch heute noch von Ödipus sprechen und die „Antigone“ auf die Bühne bringen. Das sind Archetypen, die auch in der Gegenwart Gültigkeit haben.
Ist das Internet eine Hilfe für die Bücher?
Ich denke, das Internet ist eine große Bibliothek. Und es folgt demselben Konzept wie die Bibliothek von Alexandria, die anfänglich alle Bücher beherbergen sollte, ohne Auswahl oder Einschränkung. Ich glaube auch, dass es einen Zusammenhang zwischen den neuen Technologien und Büchern gibt, wobei die Entwicklung von Schrift und Büchern technologische Revolutionen der Geschichte darstellen. Das Alphabet ist Technologie. Außerdem können wir sehen, dass alle möglichen Geräte das Buch imitieren, dass sich zum Beispiel Laptops ähnlich wie Bücher aufklappen lassen und PDFs die Architektur einer Buchseite kopieren. Wobei sich beides beeinflusst. Zum Beispiel sind durch die Konkurrenz des Internets gedruckte Bücher zum Teil viel schöner geworden. Insofern glaube ich an eine Koexistenz von beidem.
Das Buch stirbt also nicht aus?
Bücher aus Papier haben immer noch große Vorteile, die Bildschirme nicht haben. Neurologen haben zum Beispiel festgestellt, dass wir Dinge besser behalten, wenn wir sie auf Papier lesen. Im Übrigen sind Bücher etwas, das wir wirklich besitzen. Was im Internet steht, kann uns dagegen wieder genommen werden. Außerdem verbinden sich mit Büchern auch Erinnerungen, etwa mit der Widmung eines Autors oder der Person, die es einem geschenkt hat. Das sind Dinge, die man besitzt und für die man keinen Akku laden muss. In der New York Library konnte ich mir vor einiger Zeit eine Ausstellung verschiedener Manuskript-Versionen der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ansehen. Da sieht man die Dokumente mit Korrekturen, auf die später verzichtet wurde. Ohne die Manuskripte würde heute nur die Endversion vorliegen. Deshalb meine Forderung, dass wir uns um beide Welten – die analoge und digitale – kümmern sollten.
Geschieht das Ihrer Meinung nach nicht?
Zum Glück gibt es in den sozialen Medien viele Foren, in denen sich auch junge Leute über Bücher austauschen. Insofern will ich nicht in Alarmismus verfallen. Wir müssen nur die Dinge richtig machen. Wir verfügen ja heute über so viele professionelle Schriftsteller, Übersetzer und Verlage wie nie zuvor. Es liegt eben in unserer Verantwortung, der Technologie Grenzen zu setzen, kritisch zu sein und gleichzeitig die Tradition zu bewahren. Aber nicht aus Nostalgie. Ich bin sowohl gegen die Vergötterung der Tradition als auch gegen die der Innovation und der neuen Technologien. Wir müssen nur genau hinschauen, was uns das jeweilige Medium bringt.