Zum dritten Mal wurde dieses reale Ereignis jüngst verfilmt: Mehr als 50 Jahre nach dem Absturz eines Passagierflugzeugs in den Anden und dem Überlebenskampf der Insassen ist auch die aktuelle Verfilmung „Die Schneegesellschaft“ sehenswert.

Das Erinnerungsvermögen ist eine verrückte Fähigkeit. An gewisse Situationen und Dinge erinnert man sich auch nach Jahren glasklar, anderes hat man nach wenigen Sekunden vergessen. Ich bin immer wieder erstaunt, an welche Eindrücke aus meiner Kindheit ich auch heute regelmäßig denke. An einen Film zum Beispiel, den ich 1994 als Neunjährige gesehen habe, der auch in meinem Erwachsenenleben noch oft in meinen Gedanken auftaucht, weil er wohl irgendwie Eindruck hinterlassen hat. „Überleben!“ hieß er. Und obwohl man das nicht direkt als pädagogisch wertvoll eingestuft hätte, schaute ich ihn mir heimlich im Fernsehen an. Der Film aus dem Jahr 1993, mit dem damals jungen Ethan Hawke, beruht wie auch der aktuelle Streamingtipp „Die Schneegesellschaft“ auf einem realen Unglück:
Schon bald wird die Nahrung knapp
Auf dem Weg nach Chile stürzt im Oktober 1972 ein Flugzeug in den Anden ab, in dem sich unter anderem eine Rugby-Mannschaft aus Uruguay befindet. Zwar überleben zunächst viele der 45 Insassen, die Gruppe ist in der lebensfeindlichen Umgebung des Hochgebirges im Schnee und bei eisigen Temperaturen aber auf sich allein gestellt. Neben Verletzungen und Minusgraden macht ihnen auch die Tatsache zu schaffen, dass die Nahrung schon bald knapp wird. Ein dramatischer Überlebenskampf beginnt, der auch moralische Fragen aufwirft. Denn die verbleibenden Überlebenden beschließen, die Überreste der Verstorbenen zu essen, um nicht selbst zu verhungern. Vor allem durch diese Umstände ist das Flugzeugunglück in allgemeiner Erinnerung geblieben.
Die beiden Filme „Überleben!“ und „Die Schneegesellschaft“ basieren auf zwei unterschiedlichen literarischen Vorlagen, die aber beide die realen Ereignisse schildern. „Die Schneegesellschaft“ ist seit Anfang Januar bei Netflix zu sehen und geht als Oscarkandidat für Spanien ins Rennen. Der Film ist weniger ein Katastrophenfilm als eine ruhige und eindrückliche Erzählung. Die Bilder wechseln zwischen engen, bedrückenden Einstellungen im Inneren des Flugzeugwracks, vielen Nahaufnahmen der Darsteller und ausladenden Panoramaaufnahmen, die als Kontrast dazu die weiße, beängstigende Leere der Schneelandschaft zeigen. Die Protagonisten bleiben dabei zwar trotz Versuchen, den realen Opfern ein Gesicht zu geben, etwas konturlos. Aber womöglich geht es auch gar nicht so sehr um das Individuum, sondern um den lebenswichtigen Zusammenhalt in einer Gruppe. Und damit auch um die Tatsache, dass sich kollektive Grenzen und Tabus in Extremsituationen wohl doch schneller verschieben als gedacht.
„Was machen wir mit den Toten?“, heißt es noch kurz nach dem Absturz. „Wir bringen sie alle nach hinten – mit Respekt!“, ist die Antwort. Ruhig legen die Überlebenden die Körper hinter dem Flugzeugwrack nebeneinander in den Schnee. Schnitt. In der nächsten Szene wird etwas vom wenigen Essen, das sich in der Maschine befindet, zwischen den Anwesenden herumgereicht. Als das Essen nach einigen Tagen aufgebraucht und der Hunger nicht mehr auszuhalten ist, entsteht eine Diskussion: „Wir sterben hier vor Hunger. Da draußen gibt es Essen“, sagt einer. Ein anderer sagt: „Was, wenn wir es tun? Verzeiht Gott uns das?“ – „Es ist nur Fleisch“, sagt einer. „Es sind Menschen, die wir lieben“, sagt ein anderer. – „Wir haben nicht das Recht dazu“, sagt einer. Ein anderer stellt die entscheidende Frage: „Habe ich denn nicht das Recht, zu überleben?“
Kollektive Tabus verschieben sich

Allerdings machen die folgenden Sequenzen weder den Film noch die reale Geschichte aus. Die Darstellungen sind an den entscheidenden Stellen pietätvoll, nichts wird für Schockeffekte breitgetreten. Sowohl im Film als auch in den Memoiren der Überlebenden geht es vor allem um das Existieren an einem „Ort, wo Leben unmöglich ist“, und damit verbunden eben auch das Treffen von Entscheidungen. Immer wieder wird dabei der Zusammenhalt der Passagiere als Gemeinschaft deutlich, die sich austauschen, umeinander kümmern, Vorräte teilen. Bis hin zu der Tatsache, dass die Rettung der Gruppe dem Mut dreier Insassen zu verdanken ist, die ihr Leben riskieren und nach zwei Monaten in die Schneewüste aufbrechen, um Hilfe zu holen.
Geschadet hat es mir und meinem neunjährigen Ich nicht, die Verfilmung von 1993 gesehen zu haben, glaube ich. Vielmehr steht am Ende – damals wie heute – das Nachdenken über Moral, Mitgefühl und Menschlichkeit und die Erkenntnis, dass man nicht leichtfertig über die Entscheidungen von Menschen in Extremsituationen urteilen sollte.