Einst Symbol für Berlins wild-kreative Kunstszene der Nachwendezeit, hat Ende 2023 die Kultur im ehemaligen Tacheles wieder Einzug gehalten. Das Fotografiska Museum präsentiert internationale Fotokunst, flankiert von Vorträgen, Performances und Konzerten.
Noch am Abend ist das Museum in der Oranienburger Straße oft gut gefüllt. Es sind überwiegend junge Besucherinnen und Besucher, viele sprechen Englisch. „Erstaunlich, was aus dem ehemaligen Tacheles geworden ist. Musik war hier früher das ‚A und O‘. Ich besuche heute Abend hier im Ballsaal ein Konzert von Musiker Eno, verbinde das mit dem Museumsbesuch des Fotografiska und bin gespannt auf die Ausstellungen in den alten Räumen“, schildert Besucher Karl Bendig seine Erwartungen.
In diesem Sinne gibt es jetzt Kunst, Kultur, Kulinarik und Events auf fünf Etagen in einem denkmalgeschützten Haus, das zu den geschichtsträchtigen Friedrichstadt-Passagen gehört. Bereits 1907 für Geschäfte, Restaurants, Cafés, Büroräume, Theater- und Konzertsäle geplant, nutzten nach 1945 Geschäfte, Schulen und Reisebüro den von Bomben beschädigten Komplex. Zwar plante die DDR, die Ruine vollständig abzutragen, aber nach der Wende besetzten Künstler das Grundstück und belebten es mit einer freien und alternativen Kunstszene als Tacheles, das in den 1990er-Jahren legendärer Bestandteil der Berliner Clubszene war. Auf Abwicklung und Entwicklungsstillstand folgten das Wiederbeleben des Komplexes und die Sanierung des historischen Hauses. Die Instandsetzung der Fassaden und der Treppenhäuser übernahm das schweizerische Architekturbüro Herzog & de Meuron. In den Treppenfluren erinnern die gut restaurierten und erhaltenen Graffiti an die stürmischen Nachwendezeiten des Tacheles.
Eine Legende der Nachwendezeit
Heute stehen natürlich die fotografischen und inhaltlichen Schwerpunkte im Zentrum des Hauses. Da sind zum einen die Ausstellungen in den ehemaligen Räumen des Tacheles, verteilt über drei Etagen. Und es gibt die unter strengsten Auflagen des Denkmalschutzes historisch restaurierten Treppenaufgänge mit all den imposanten Graffitis, Plakaten und Texten des alten Tacheles aus den 90er-Jahren.
Es braucht Zeit und es macht Spaß, die Wandmalereien und interessanten alten Bonmots zu studieren und sich dabei vielleicht an die Zeit zu erinnern, aus der sie stammen. Dazu bieten die drei Ausstellungsetagen eine Fülle an Entdeckungen, Etage für Etage. Zeitgenössische Fotografien unterschiedlichster Künstler repräsentieren das Hier und Jetzt, mit aktuellen und gesellschaftlichen Fragestellungen unserer Zeit.
Das Fotografiska-Konzept ist bereits international erprobt, hat sich in Schweden, Estland und den USA bewährt. In Stockholm entstand das erste Museum in einem alten Zollhaus, es folgten weitere Standorte in historischen Gebäuden in Tallinn und New York und kürzlich in Shanghai. Inhaltlicher Ausstellungsschwerpunkt in Berlin werden künstlerische Positionen von Frauen und Minderheiten werden, betont Director of Exhibitions und Hauptkuratorin Marina Paulenka.
Zur Eröffnung startete das Museum mit drei bemerkenswerten Ausstellungen von Juliana Huxtable: „–Ussyphilia“, Candice Breitz: „Whiteface“ und „Nude“. Die Gruppenausstellung „Nude“ kam direkt aus dem Fotografiska-Museum New York. In dieser Form soll es regelmäßig einen Austausch zwischen den Häusern geben. 30 Künstlerinnen aus 20 Ländern präsentierten ihre Sichtweisen zum Themenschwerpunkt „Body Politics“. So kehrt die Chinesin Yoshi Li beispielsweise mit ihren Fotos das tradierte Bild von nackten Frauen um: „Für die Serie ‚My Tinder Boys‘ habe ich Männer fotografiert, die ich über die Dating-App Tinder kennengelernt habe. Ich schaue sie an, ich like sie, ich mache sie zu Bildern von mir. Die Wiederholung dieses Prozesses macht diese Männer zu charakterlosen, austauschbaren Objekten meines Begehrens.“ So stehen, sitzen oder liegen die Männer auf den Fotos von Yoshi Li am Pool oder im Wohnzimmer, nackt, scheinbar abwartend, auf jeden Fall passiv, manchmal umgeben von bekleideten Frauen. Aufrüttelnd sind die Schwarz-Weiß-Fotos von Jenevieve Aken aus Nigeria. Mit ihren Aufnahmen appelliert die Künstlerin, über Gewalt an Frauen nachzudenken. Ihre Serie befasst sich mit der nackten Wahrheit, fühlbar, sichtbar und nachhaltig für die Betrachter.
Der erste Zyklus der Ausstellungen wechselte bereits und weitere Ausstellungen zeitgenössischer Künstler bieten in den kommenden Monaten Anlass für erneute Besuche. Carla Chans „Black Moves“ präsentiert eine immersive Videoinstallation zum Thema Natur. Sich stetig verändernde Bilder, die von Algorithmen angetrieben werden, simulieren Himmel, Wolken, Wasser oder Felsformationen. Einer unsichtbaren Ordnung scheinbar folgend, zielt „Black Moves“ darauf ab, diese Formen und Bewegungen in einen digitalen Raum zu übertragen, die Betrachter förmlich „hineinzuziehen“.
Konzept ist international erprobt
Omar Victor Diop aus dem Senegal fordert hingegen mit seinen kunstvoll inszenierten Exponaten die Betrachter aus einer ganz anderen Perspektive heraus. Mittels Selbstporträts in seinen Fotografien macht er auf die Geschichte aufmerksam, auf die globale Politik des Widerstands der Schwarzen und der Kämpfe für Freiheit und Menschenrechte. Beeindruckend das Bild von drei Männern, die mit Hunderten Wirtschaftsmigranten von den Westindischen Inseln 1948 im britischen Tilbury ankommen. Omar Victor Diop sucht mit seinen Bildern visuelle Antworten auf die Fragen nach der Geschichte der Schwarzen und das mit farbenfrohen Details und einer eindrucksvollen Symbolik.
Insgesamt zeigt Diop in der Ausstellung drei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Werkgruppen mit nachdenklich stimmenden Fotografien: „Diaspora“, „Liberty“ und „Allegoria“. „Diaspora“ (2014) lässt sich von westlichen Porträts aus dem 15. bis 19. Jahrhundert inspirieren, die eine Vielzahl an schwarzen Persönlichkeiten zeigen, die zu ihrer Zeit einen hohen sozialen Status erreicht hatten. „Liberty“ (2017) mit dem Untertitel „A Universal Chronology of Black Protest – Eine universelle Chronologie des schwarzen Protests“ interpretiert bedeutende Momente der historischen Revolte im Zusammenhang mit dem Kampf für die Freiheit neu. „Allegoria“ (2021) befasst sich auf fantasievolle Weise mit der Klimakrise und ihren Auswirkungen auf den globalen Süden und insbesondere den afrikanischen Kontinent. In seinen farbenfrohen, aber nachdenklich stimmenden Bildern steht immer wieder der Künstler selbst im Zentrum und will auf die Komplexität politischer Repräsentation hinweisen.
Die dritte neue Fotografiska-Ausstellung zeigt im Februar 2024 Werke von Miles Aldridge, einem der bedeutendsten Modefotografen der 1990er-Jahre, unter dem Titel „Virgin Mary. Supermarkets. Popcorn“.