Fertigprodukte, Fast Food und Softdrinks bestimmen unseren Alltag, doch das muss nicht sein. Ernährungsexpertin Katrin Böttner spricht im Interview über den fatalen Gewöhnungseffekt, Clean Labelling der Hersteller und geschmacksintensive Aromen.
Frau Böttner, mit welchen Methoden schaffen es Lebensmittelkonzerne wie Nestlé, Danone und Co., unsere Lieblingsprodukte wie Tiefkühlpizza, Chips und Gummibärchen so verlockend und schmackhaft zu machen?
Vor allem durch eine sehr ausgeklügelte Kombination von Geschmäckern und Sinneseindrücken. Viele dieser Produkte sind süß, salzig, fettig, knusprig, cremig – häufig auch alles auf einmal – und damit hochgradig schmackhaft. Das sind Geschmacks- und Sinneseindrücke, die ein sehr starkes Verlangen nach mehr auslösen können. Für unsere Vorfahren in Zeiten, als das Nahrungsangebot knapp war, war die Präferenz für potentiell kalorienreiche Lebensmittel durchaus sinnvoll und hat unser Überleben gesichert. In unserer heutigen von Überfluss geprägten Gesellschaft sind solche Vorlieben eher schwierig, weil sie zu einer übermäßigen Aufnahme von Energie führen können. Die Kombination aus leicht resorbierbaren Kohlenhydraten, Fetten, Aromen und Geschmacksverstärkern erzeugt schlicht ein starkes Verlangen.
Was sind weitere Tricks der Lebensmittelindustrie?
Die Hersteller vermarkten ihre Produkte mit Werbung, die teilweise eine enorm suggestive Wirkung entfaltet. Einmal stehen natürlich Geschmack und Konsistenz des Produktes an sich im Vordergrund. Ein wichtiger Punkt ist aus meiner Sicht, dass diese hochverarbeiteten Lebensmittel sehr intensiv und ausgeklügelt beworben werden. Zum Beispiel wird darauf gesetzt, den Produkten einen natürlichen Anstrich zu verleihen, positive Lebensgefühle zu vermitteln, wie zum Beispiel Limo, die Freiheit und Unabhängigkeit suggeriert. Süßigkeiten sollen Spaß machen und werden mit Umweltschutz verbunden. Fruchtjoghurt soll zur heilen Familie dazugehören. Lauter solche Botschaften spielen im Marketing eine wichtige Rolle.
Hochverarbeitete Nahrungsmittel dominieren unsere Ernährung. Experten gehen sogar so weit und sagen, dass sie unsere natürlichen Lebensmittel und frisch zubereiteten Speisen verdrängen. Wie schaffen wir es, diese Entwicklung wieder rückgängig zu machen?
Das ist schwierig. Man muss zunächst zwischen der persönlichen und gesellschaftlichen Ebene unterscheiden. Ich denke, auf jeden Fall sind politische Anreize notwendig, um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Seit Längerem ist im Gespräch die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse abzusenken. Das würde aus meiner Sicht etwas bewirken. Auch eine Zuckersteuer halte ich für gut und richtig. Genauso wie die derzeit diskutierten Werbebeschränkungen von ungesunden Lebensmitteln für Kinder. Auf der anderen Seite spielen auch Kennzeichnungen wie der weiterentwickelte Nutri-Score eine Rolle. Zukünftig sollen auch Süßungsmittel zu einer Abwertung führen. Das ist eine positive Entwicklung. Wenn der Nutri-Score verpflichtend wäre, würde er allerdings deutlich mehr bringen. Für absolut sinnvoll halte ich Angebote der Ernährungsbildung für verschiedene Zielgruppen. Auch Kompetenzen sind wichtig, wenn es etwa darum geht, frische Lebensmittel zuzubereiten. Letztendlich ist es auch eine individuelle Entscheidung, wie sehr man sich selbst bemüht, der Entwicklung entgegenzutreten und wann immer möglich auf frische Lebensmittel zurückgreift.
Kann man das schaffen, aus dem Verhaltensmuster auszubrechen, wenn man sich vermehrt von hochverarbeiteten Produkten ernährt?
Ja, das kann man schaffen. Aber wenn man sich langfristig viel von hochverarbeiteten Lebensmitteln, also viel Fast Food und Süßigkeiten, ernährt hat, tritt ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Die Lebensmittel sind so hergestellt, dass sie ein Maximum an Schmackhaftigkeit mitbringen. Selbst gekochtes Essen schmeckt im Vergleich dazu ein Stück weit anders, ebenfalls aromatisch, aber weniger einheitlich. Wir gewöhnen uns an intensive Geschmäcker, die durch Aromen produziert werden. Letztgenannte schmecken immer gleich und sehr intensiv. Deshalb kann es dazu kommen, dass man den Geschmack einer frischen Erdbeere als weniger aromatisch empfindet als einen Erdbeer-Joghurt, in dem eigentlich keine Erdbeere drin ist, sondern der nur aromatisiert ist. Auch Zucker und Salz sind Vorlieben, die gewöhnungsbedingt sind. Man kann sich das wieder abgewöhnen, aber es kann etwas dauern. Daher ist eine schrittweise Umstellung gut, zum Beispiel, indem ich aus frischen Zutaten selbst koche und dabei weniger Salz verwende oder beim Backen weniger Zucker. Sinnvoll ist auch, sich mit frischen Zutaten, Kräutern und Gewürzen auseinanderzusetzen und damit, was einem schmeckt. Dafür braucht es allerdings mehr Zeit. Ein Faktor von hochverarbeiteten Lebensmitteln ist, dass sie enorm praktisch und zeitsparend in der Zubereitung sind. Aber auch frisch zu kochen muss nicht lange dauern.
Was können Eltern junger Menschen tun, wenn sie merken, dass ihre Kinder über den Tag verteilt viele hochverarbeitete Produkte konsumieren?
Am besten ist natürlich, dass Eltern von vornherein schauen, dass die Geschmacksprägung nicht zu sehr durch stark verarbeitete Lebensmittel dominiert wird. Gerade in den ersten Lebensjahren ist es wichtig, wie der Geschmack geprägt wird. Das hält sich für den Rest des Lebens und prägt sich tief ein. Entscheidend ist auch die Vorbildfunktion. Wenn die Eltern sich selber anders als die Kinder ernähren, dann merken die das. Das funktioniert langfristig nicht. Trotzdem muss man in der Hinsicht nicht strikt dogmatisch sein. Kinder von verarbeiteten Produkten völlig fernzuhalten, ist für die meisten realitätsfern. Die Gefahr besteht, dass das nach hinten losgeht, wenn die Kinder selbstständiger werden und dann ein umso größeres Verlangen nach manchen Produkten haben. Man sollte versuchen ein gutes Maß zu finden, das für die Familie passt, und so oft es eben geht frische Lebensmittel verwenden. Die aktuellen Ernährungsempfehlungen sagen, dass eine Portion Süßigkeiten, also eine Kinderhand voll, am Tag im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung völlig in Ordnung ist.
Ernährungswissenschaftler der Uni Wien haben in Kooperation mit der International Agency for Research on Cancer festgestellt, dass ein hoher Konsum von hochverarbeiteten tierischen Produkten und Softdrinks mit einem höheren Krebsrisiko und kardiometabolischen Erkrankungen verbunden ist. Wie verhält sich die Verbraucherzentrale NRW dazu?
Speziell in dieser Studie haben sich vor allem hochverarbeitete tierische Produkte und gesüßte Softdrinks als risikoreich herausgestellt. Das ist erst einmal keine neue Erkenntnis. Deshalb ist die Empfehlung zu einer stärker pflanzenbetonten Ernährung ein wichtiger Bestandteil der aktuellen Ernährungsempfehlung. Die gesundheitlichen Risiken, die von einem hohen Softdrink-Konsum ausgehen sind schon länger gut erforscht. Deswegen sind die Ergebnisse nicht grundsätzlich neu. Wann immer möglich fließen Ernährungsempfehlungen in unsere Ernährungsbildungs- und Aufklärungsmaßnahmen ein. Solche Erkenntnisse bestätigen eher die bestehenden Empfehlungen. Wir haben im November 2022 bei einem Marktcheck 18 Erfrischungsgetränke mit nicht wiederverschließbaren Verpackungen unter die Lupe genommen.
Was war das Ergebnis?
In den Getränken ist sehr viel Zucker enthalten. Auf der Packung ist ja der Nährwert pro 100 Milliliter angegeben. Wenn man auf die Größe der Behältnisse schaut, muss man sich überlegen, wie viel Zucker das Kind mit einer Portion konsumiert. Unter Umständen wird ein solches Getränk gar nicht als Süßigkeiten-Konsum betrachtet, sondern als Getränk für zwischendurch. Unterm Strich steckt eine richtig große Menge Zucker in einer solchen Portion. Wenn man zu wiederverschließbaren Trinkbehältnissen greift, kann man immerhin darüber nachdenken, nicht alles auf einmal zu trinken. Ob das gemacht wird, ist jedoch eine andere Frage.
Der Lebensmittelindustrie stehen in der EU rund 320 Zusatzstoffe zur Verfügung. Was sollten wir über Zusatzstoffe, die für hochverarbeitete Lebensmittel verwendet werden, wissen?
Zusatzstoffe sind in der Zutatenliste gekennzeichnet, entweder unter dem Klassennamen mit zusätzlicher E-Nummer oder auch mit dem Klassennamen und der Bezeichnung des Zusatzstoffes. Zum Beispiel Antioxidationsmittel Ascorbinsäure oder Antioxidationsmittel E 300. Allerdings lesen wir heute weniger häufig dieses „E“ auf der Zutatenliste, weil Anbieter versuchen, ihre Zutatenliste unproblematischer aussehen zu lassen. Das nennt man Clean Labelling. Zusatzstoffe werden heute eher mit der tatsächlichen Bezeichnung in der Zutatenliste genannt als mit der E-Nummer, weil Verbraucherinnen und Verbraucher auf Letztere empfindlicher reagieren.
Das heißt Clean Labelling soll die Produkte vertrauenserweckender gestalten?
Ja, die E-Nummern haben sich in der Bevölkerung als Substanzen durchgesetzt, die man in den Lebensmitteln nicht so gern haben möchte. Daher sind die anderen Bezeichnungen aktuell beliebter.
Die Zusatzstoffe sind im Übrigen alle auf ihre Unbedenklichkeit überprüft worden. Aber die Zulassung kann wieder entzogen werden, falls neue Erkenntnisse vorliegen, die ein Verbot notwendig erscheinen lassen. Im Mai 2021 wurde etwa Titandioxid in Lebensmitteln verboten, weil es nicht länger als sicher eingestuft werden konnte. Immer wieder gibt es Zusatzstoffe, die in die Diskussion geraten. Wenn wenig Zusatzstoffe enthalten sind oder gar keine, ist das natürlich ein Hinweis auf weniger verarbeitete Produkte.
2.500 Aromastoffe werden in der Industrie eingesetzt. Wofür brauchen die Hersteller all diese Aromastoffe?
Die Hersteller können mithilfe von Aromen die Geschmäcker intensivieren, spezielle Geschmäcker herstellen und Schwankungen ausgleichen, die durch natürliche Zutaten entstehen können. Mit Aromastoffen können Geschmäcker standardisiert werden, sodass sie immer gleich sind, und bestimmte Zutaten komplett ersetzt werden. Letzteres gilt etwa für saisonale und teure Zutaten. Dadurch sparen die Hersteller schlichtweg Geld. Rohstoffe wie Vanille und Erdbeeren werden weltweit gar nicht in der Menge produziert, wie sie nötig wäre für all die Produkte, die danach schmecken sollen. Außerdem werden dadurch ausgefallene Produktkreationen möglich, wie etwa der Zimtschnecken-Tee. Das Problem ist jedoch, dass wir uns an solche Geschmäcker gewöhnen. Wenn wir auf Dauer ganz viele aromatisierte Lebensmittel konsumieren, kann es passieren, dass wir die ursprünglichen Lebensmittel gar nicht mehr so schmackhaft und intensiv empfinden.
Was halten Sie davon, eine verpflichtende Kennzeichnung für UPFs einzuführen, um dadurch die Verbraucher besser zu informieren?
Ich denke, dass wir soweit aktuell noch nicht sind. Rund um das Konzept der UPFs gibt es derzeit noch viele Diskussionen und Forschungsbedarf, zum Beispiel hinsichtlich der Eingruppierung von Lebensmitteln oder der Kausalität von Zusammenhängen. Naheliegender ist eine verpflichtende Einführung des Nutri-Scores, dessen Berechnung kürzlich überarbeitet wurde und der auch in Zukunft weiterentwickelt werden soll und so bei der Unterscheidung von günstiger und weniger günstig zusammengesetzten verarbeiteten Lebensmitteln helfen kann.
Was können Verbraucherinnen und Verbraucher tun, um sich von den großen Lebensmittelherstellern nicht hinters Licht führen zu lassen?
Der am einfachsten umsetzbare Tipp ist zu schauen wie lang die Zutatenliste ist. Sehr viele Zutaten sind ein Hinweis auf eher hoch verarbeitete Produkte. Wer auf Zusatzstoffe verzichten möchte, sollte bedenken, dass nicht immer ein „E“ davor steht, zusätzlich zum Klassennamen reicht auch die Bezeichnung des jeweiligen Stoffes. Wir als Verbraucherzentrale raten dazu, sich nicht von den wesentlichen Informationen über das Lebensmittel ablenken zu lassen, etwa durch blumiges Storytelling auf der Verpackung. Es gibt immer eine offizielle Bezeichnung auf verarbeiteten Lebensmitteln, in der angegeben ist, was ich in der Hand habe. Nicht immer ist der Name eines Produktes aussagekräftig. Außerdem sind die Nährwertangaben wichtig. So kann ich den Salz-, Zucker-, Fett- und Kaloriengehalt von verschiedenen Produkten vergleichen. Das klingt alles unendlich kompliziert und als würde der Einkauf ewig dauern, aber ich denke, dass die meisten Menschen durchaus viele Produkte häufiger kaufen. Ich würde dazu raten, hin und wieder eines davon genauer anschauen, auf den Nutri-Score zu achten und auch mal mit ähnlichen Produkten zu vergleichen. Auf diese Weise kann man ohne viel Aufwand eine gute Wahl treffen.