Florian Wellbrock ist im Freiwasser das Maß aller Dinge, aber im Becken hat er seine beste Zeit hinter sich. Oder doch nicht? Bei der WM in Doha will er es sich selbst beweisen, dass der Doppelstart erfolgreich sein kann.

Ersatzmann – diese Bezeichnung muss Florian Wellbrock extrem schmerzen. Doch im Grunde ist der Olympiasieger genau das bei den anstehenden Schwimm-Weltmeisterschaften in Katar. Gemäß der Nominierungsrichtlinien hatte sich Wellbrock wegen seiner desaströsen Becken-Leistungen bei der vorangegangenen WM in Japan nicht für die Rennen auf der 50-Meter-Bahn in Doha qualifiziert. Doch weil der gesetzte WM-Dritte Lukas Märtens die langen Kraulstrecken zugunsten seiner Paradestrecke 400 Meter Freistil auslässt, drückte der Nominierungsausschuss ein Auge zu und folgte dem Vorschlag von Christian Hansmann als Leistungssportdirektor im Deutschen Schwimm-Verband (DSV). „Als deutscher Rekordhalter und Weltmeister über 1500 Meter Freistil ist Florian der beste Ersatz, den wir uns wünschen können“, sagte Hansmann. Vom Vorschwimmer zum Ersatz – das will Florian Wellbrock nicht auf sich sitzen lassen.
„Aufstehen, weitermachen – und dann wird wieder angegriffen“, sagte Wellbrock mit Blick auf die Titelkämpfe in Doha (2. bis 18. Februar) und auch schon auf Olympia im kommenden Sommer: „Ich steige da jetzt mit meiner Routine wieder ein, ich habe ein Topteam, das Training macht Spaß. Deswegen wird wieder voll angegriffen.“ Der 26-Jährige will in Doha und später in Paris beweisen, dass Doppel-Triumphe im Freiwasser und Becken durchaus möglich sind. Im japanischen Fukuoka war er mit dieser Mission im vergangenen Sommer auf höchst überraschende Weise gescheitert. Nach zwei famosen Goldrennen im offenen Gewässer über fünf und zehn Kilometer trat der Magdeburger eine Woche später maximal euphorisiert in den Becken-Wettbewerben an – und wurde von der Realität brutal eingeholt. Vorlauf-Aus über 800 und auch auf seiner einstigen Goldstrecke 1500 Meter. Vor allem die Demütigung auf der längsten Kraulstrecke tat weh, denn hier war er als Weltjahresbester mit klaren Goldambitionen angereist. Platz 20 und eine Endzeit 35 Sekunden über seinem deutschen Rekord trafen den Weltmeister von 2019 auf dieser Strecke und seinen Trainer Bernd Berkhahn völlig unvorbereitet. Und es machte sie ratlos.
Der traum vom Doppel-Triumph

„Der Tag heute fühlt sich ein bisschen surreal an“, sagte Wellbrock: „Was ich hier bei der Weltmeisterschaft im Pool gezeigt habe: Das ist nicht der Florian Wellbrock, der ich normalerweise bin.“ Er, der den Wettkampf mit den Besten so sehr liebt, war an jenen Tagen auf der 50-Meter-Bahn nicht wettbewerbsfähig. Nichts habe in der Vorbereitung auf einen solchen Einbruch hingedeutet, kein einziger Trainingswert, wie Berkhahn berichtete. Also war es der Kopf? War der Druck zu groß? Oder die Gier nach zwei Siegen im Freiwasser zu gering? All das verneinte Wellbrock. „Natürlich ist der Druck irgendwo da. Das gehört dazu. Ich bin aber auch der Meinung, dass ich mit diesem Druck umgehen kann. Deswegen bin ich Wettkampfsportler, deswegen mache ich das so erfolgreich“, sagte er: „Das, was hier passiert, ist das, wofür ich jeden Tag aufstehe, was ich liebe, wofür ich brenne.“ 2019 bei der WM in Südkorea hatte Wellbrock mit dem Vorlauf-Aus über 800 Meter einen ähnlichen Rückschlag kassiert, sich damals aber über 1500 Meter mit Wut im Bauch zum Weltmeister gekrönt. So ein Comeback blieb in Japan aus. „Ich habe mir während des Rennens gedacht: Was passiert hier eigentlich?“, berichtete sein Magdeburger Teamkollege Lukas Märtens mit einem Anflug von Mitleid. „Er hat diesmal die Kurve nicht bekommen“, sagte Berkhahn, der die riesige Enttäuschung seines Schützlings komplett nachvollziehen konnte: „Was soll man sonst erwarten von einem Topsportler? Er kommt hierher, um Medaillen zu gewinnen, gar keine Frage. Das war auch sein Anspruch.“
Wellbrock wurde danach medizinisch auf den Kopf gestellt, konkrete Erklärungen für den Einbruch brachten die Untersuchungen aber nicht. Das sei gut und schlecht zugleich, befand Wellbrock. Auf der einen Seite hätte er gerne einen Grund erfahren, mit dem er hätte arbeiten können, der ihm wertvolle Hinweise für die Zukunft hätte geben können. „Auf der anderen Seite können wir auch alle heilfroh sein, dass nichts gefunden wurde, dass ich kerngesund bin“, sagte er. Dem Kopf und Körper hatte er nach der großen Enttäuschung eine längere Verschnaufpause gegönnt. Mit Ehefrau Sarah, die als frühere Spitzenschwimmerin die Gefühlslage ihres Mannes gut nachvollziehen konnte, war er in Schweden zum Abschalten unterwegs. „Die dreieinhalb Wochen Urlaub waren nötig und wichtig“, sagte Wellbrock, „aber nach drei Wochen hatte ich schon wieder Lust aufs Wasser und bin tatsächlich ein, zwei Tage früher gekommen als es eigentlich notwendig war“. Der extrem ehrgeizige Wellbrock fühlte schnell wieder diesen inneren Antrieb. „Ich hatte für mich selbst das Bedürfnis, wieder einzusteigen“, sagte er und gab zu: „Manchmal verschwende ich schon noch den ein oder anderen Gedanken an die WM, woran es gelegen hat.“
Konkrete Erklärung fehlt

Erfolge können diese Gedanken am besten vertreiben. In der WM-Vorbereitung überzeugte Wellbrock Mitte Dezember beim Pokal der Landeshauptstadt in der Magdeburger Elbeschwimmhalle mit einer Zeit von 14:51,77 Minuten über 1.500 Meter, die bei der vorangegangenen WM locker fürs Finale gereicht hätte. „Für Dezember war das die zweitschnellste Zeit in meiner Karriere“, berichtete Wellbrock, der nach den Weihnachtstagen ein Trainingslager im deutlich wärmeren Südafrika absolvierte. Auch, um saisonalbedingte Krankheiten wie im vergangenen Herbst zu vermeiden. „Bis zur WM und auch den Olympischen Spielen heißt es nun, weiterhin gesund zu bleiben und Gas zu geben“, sagte er. Und weitere Erfahrungen mit der Doppelbelastung sammeln. Auch in Doha geht Wellbrock zunächst im Freiwasser als Top-Favorit und dann im Becken an den Start. Bei den Olympischen Spielen in Paris ist es andersrum: Zuerst stehen die Rennen auf der 50-Meter-Bahn auf dem Programm, dann die 10 Kilometer in der Seine. Bei Olympia in Tokio hatte Wellbrock im offenen Gewässer Gold geholt, zuvor im Becken über 1.500 Meter Bronze. Sein großer Traum ist aber das historische Gold-Double in Paris, mit dem er sich im Schwimmsport unsterblich machen würde.
So oder so gehört Wellbrock zu den Kandidaten, die in der Öffentlichkeit als mögliche deutsche Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier gehandelt werden. „Ich denke, dass es für jeden Fahnenträger eine große Ehre ist, die Aufgabe zu übernehmen“, sagte Wellbrock und ergänzte zurückhaltend: „Allerdings bräuchte ich persönlich diese Aufregung direkt vor den Spielen nicht. Ich bin auch mit einer Rolle im Hintergrund sehr zufrieden.“ Dass die Menschen seine Leistungen zu schätzen wissen und auch würdigen, zeigte die jüngste Wahl zu Deutschlands „Sportler des Jahres 2023“. Hier belegte Wellbrock den zweiten Platz hinter Turner Lukas Dauser und vor Ruderer Oliver Zeidler. Und das, obwohl selbst Schwimm-Weltmeisterschaften anders als noch zu Zeiten einer Franziska van Almsick oder Britta Steffen nicht mehr live im Hauptprogramm von ARD und ZDF gezeigt werden.
Schwimmen nicht mehr im Live-TV
Deshalb ist Lukas Märtens manchen Sportfans auch kein Begriff. Dabei hat der 22-Jährige bei der WM in Japan als Dritter über 400 Meter Freistil die einzige deutsche Medaille geholt und sich im Vorjahr auf dieser Strecke zum Europameister gekürt. Märtens hat seinen Magdeburger Teamkollegen Wellbrock als Vorschwimmer im Becken mittlerweile abgelöst, auf ihm ruhen auch in Doha die größten Medaillen-Hoffnungen. Allerdings plagte er sich in der Vorbereitung mit krankheitsbedingten Ausfällen, die seinem Trainer Berkhahn Kopfzerbrechen bereiteten. Er sprach Mitte Dezember von „erschreckend wenig“ Trainingsumfängen von Märtens. Auch dessen Schwester Leonie Märtens, die ebenfalls für die WM als Debütantin nominiert wurde, sowie der Frankfurter Oliver Klement fielen in der Vorbereitung angeschlagen zeitweise aus. „Gefühlt ist es die anstrengendste Saison seit Jahren“, sagte deshalb Berkhahn, der auch als Schwimm-Bundestrainer agiert.

Im Becken sind bei der WM insgesamt zehn deutsche Schwimmer in Einzelrennen am Start. Auf Staffelstarts verzichtet der DSV in Doha komplett. „Trainingsmethodisch wäre es nicht zielführend für ein gutes Olympiaabschneiden, innerhalb von fünf Monaten gleich drei Wettkampfhöhepunkte anzustreben“, begründete Berkhahn diese Entscheidung. Die Schwimmer sollen bei der Olympia-Qualifikation im April in Berlin in Topform sein – und dann natürlich vier Monate später wieder bei Olympia. Die Weltmeisterschaft in Doha verliert im Olympiajahr auch für andere Nationen an Stellenwert. Die USA zum Beispiel, seit Jahren die Nummer 1 im Schwimmsport, schicken nur 18 Aktive nach Katar. Topstars wie Katie Ledecky, Bobby Finke oder auch Caeleb Dressel fehlen. Medaillen werden bei der WM im Beckenschwimmen, Freiwasserschwimmen, Wasserball, Wasserspringen, Synchronschwimmen und Wasserspringen vergeben. Russische Athleten sind nicht am Start, das bestätigte jüngst der Weltverband World Athletics. Aus Belarus werden vier Schwimmerinnen oder Schwimmer sowie eine Synchronschwimmerin als sogenannte neutrale Athleten teilnehmen. Der Weltverband hatte im vergangenen September mit einem umstrittenen Beschluss die Rückkehr russischer und belarussischer Sportler ermöglicht. Dafür müssen jedoch bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, der Angriffskrieg in der Ukraine darf zum Beispiel vom Athleten nicht aktiv unterstützt worden sein. Zudem sind – wie in den meisten anderen Sportarten auch, die Russen und Belarussen wieder zugelassen – das Abspielen der Hymnen sowie das Zeigen der Nationalflaggen verboten. Auch die Anzahl der Starterinnen aus Russland und Belarus sind im Schwimmsport begrenzt.