Mit Aufklärung gegen Extremismus zum Tiktok-Star? Ein junger Tschetschene und ein erfahrener Polizist in Wien gehen neue Wege, um Prävention gegen Propaganda und Radikalisierung zu unterstützen.
Der Millenniumtower im Wiener Bezirk Brigittenau, einem Büroturm mit Einkaufszentrum: Marktstände bieten unter den Gleisen der S-Bahn Obst und Gemüse an. Hier wartet Polizei-Gruppeninspektor Uwe Schaffer auf seinen Videoclip-Partner Ahmad. Er steht nur ein paar Augenblicke in seiner dunkelblauen Uniform vor dem Tower, da ist er schon von ein paar Halbwüchsigen umringt, die ein Autogramm von ihm möchten. Ahmad sei ja noch gar nicht da, sagt er. Das mache nichts, insistieren die Jungs. „Sie sind berühmt.“
Innerhalb weniger Monate ist das ungleiche Paar, der 23-jährige bärtige aus Tschetschenien stammende Ahmad und der 59-jährige Polizist, in den sozialen Netzwerken zu Stars geworden: Als „Che und Cop“, als der Tschetschene und der Polizist, als Ahmad und Uwe treten sie auf.
In diesen Videos werden Fragen beantwortet, die Jugendliche, vor allem mit Migrationshintergrund, an Ahmad schicken und die von Uwe beantwortet werden. Etwa: „Darf man als Albaner manchmal Serben schlagen?“ Oder: „Wie lange sitzt man im Gefängnis, wenn man mit 15 einen Überfall begeht?“ Ein User möchte wissen: „Ist meine Strafe noch höher, wenn ich vor der Polizei weglaufe?“ Und Uwe antwortet: „Da es in der Verfassung das Recht auf Freiheit gibt, ist es nicht verboten.“
Kennengelernt haben sich die beiden bei einem Workshop der Polizei mit der tschetschenischen Community. Es ging um ein besseres gegenseitiges Verständnis füreinander. Ahmad fand damals die Vorschläge der Polizei für ein Fußballmatch oder ein Schachturnier als lächerlich, worauf Uwe ihn zum Gespräch einlud. Daraus wurden die Videos auf Tiktok. In nicht einmal einem Jahr wurden sie fast zehn Millionen Mal angeklickt. Mehr als eine halbe Million Likes haben die zwei schon.
Millionen Klicks, aber auch Anfeindungen
Es gibt auch die andere Seite, erzählt Ahmad Mitaev: „Einer hat mir heute früh auf unserem Tiktok-Kanal geschrieben, dass ich ein dreckiger Moslem bin, und dass ich zurück in meine Heimat soll.“ Auch aus der eigenen Community, die der Polizei teilweise höchst reserviert gegenüber steht, schlägt Ahmad mitunter Ablehnung entgegen: Er mache mit einem Polizisten gemeinsame Sache.
Denn unter seinen Landsleuten gibt es einige, die dem Extremismus zugerechnet werden und andere bedrohen, wenn sich diese aus ihrer Sicht nach falsch verhalten. Ahmad kennt einige, die sich fürchten würden. „Aber ich nehme so was mittlerweile nicht mehr ernst. Ich fürchte diese Menschen nicht, weil ich sie sehr gut kenne.“
Ahmad ist Jugendarbeiter. Er selbst ist als Junge straffällig geworden und hätte nach eigenen Worten damals solche Wegweisungen gebraucht, wie sie jetzt die kurzen Videos anbieten, erzählt er.
Dzemal Sibljakovic ist als Kind im Gefolge des Jugoslawien-Kriegs nach Österreich gekommen. Er studiert hier und möchte Psychotherapeut werden. Derzeit ist er der erste und bisher einzige muslimische Gefängnisseelsorger in Wien, der eine Vollzeitstelle hat. Dabei stellt er fest, dass sich die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft vor allem gegenüber der tschetschenischen Community oft als Selffulfilling Prophecys erweisen. „Da werden junge tschetschenische Männer als aggressiv, immer als widerspenstig, immer als problematisch dargestellt“, sagt er. „Bei manchen ist die einzige Art darauf zu reagieren, ins Negativbeispiel hinein zu kippen: Ok, ihr sagt die ganze Zeit, dass ich aggressiv bin, dass ich immer auf Zoff aus bin. Dann gebe ich genau das, was ihr wollt.“
Als Gefängnisseelsorger ist Sibljakovic zuständig für alle muslimischen Gefangenen in den vier Wiener Gefängnissen, rund 500 Menschen. Ausreichend Einzelbetreuung sei da unmöglich. Sie würden ihm oft erzählen, wie ohnmächtig sie sich fühlen würden, insbesondere, wenn sie Rassismus durch Staatsorgane ausgesetzt seien.
Sibljakovic spricht von rassistischen Strukturen in den Haftanstalten, dem Machtgefälle zwischen Insassen und Justizwachbeamten und -beamtinnen. Er räumt aber ein, dass es in Haftanstalten auch zu Radikalisierungen durch Mitgefangene komme, wenngleich er lieber von Fanatisierung als von Extremismus spricht. Darauf habe die österreichische Justiz erfolgreich mit häufigeren Versetzungen solcher Multiplikatoren innerhalb der Haftanstalten reagiert.
Aber auch junge ÖsterreicherInnen würden zum Islam, konkreter zum Islamismus, konvertieren. Extremismusforschende bezeichnen dies quasi als Jugendkultur, als Punk der 2000er, 10er- und 20er-Jahre, eine Möglichkeit sich gegen die freie, liberale Gesellschaft aufzulehnen, ein identitätsstiftendes Merkmal zu finden. „Es ist nicht mehr wie früher, dass jemanden ein Tattoo aufregt, es ist nicht mehr schlimm, wenn man irgendwo betrunken Party macht. Aber es wird als sehr bedenklich und fragwürdig begriffen, wenn man ein Kopftuch trägt oder wenn ich in die Moschee beten gehe.“
Ähnliche Beobachtungen macht die Leiterin der Beratungsstelle Extremismus, kurz BEX, Verena Fabris, seit etwa einem Jahr, nicht nur in muslimischen Kreisen: „Es ist auch ein jugendkulturelles Phänomen, dass Jugendliche zu so einer globalen salafistischen Popkultur konvertieren“, sagt sie. „Das passiert über Peer-Gruppen, das passiert über Tiktok, dann sind vielleicht Freundinnen in einer Gruppierung, und dann findet man das auch cool. Wenn man in der Schule Allahu akbar schreit, bekommt man Aufmerksamkeit.“
Anders als zur Zeit des Syrienkriegs 2013/2014 habe der Islamische Staat heute keinen Einfluss mehr, Gewalt sei bei den Jugendlichen kein Thema mehr, so Fabris. „Und was wir auch bemerken, dass es fluider ist und die Jugendlichen auch eher ein- und aussteigen.“
Gespräch suchen und im Gespräch bleiben
In Wien gebe es zwar keine Gangs wie in anderen Großstädten, doch sei die Stadt traditionell Hauptstadt der Agenten und Agentinnen weltweit. Extremistische Zellen gebe es hier eindeutig. Die meisten Menschen in Europa, die Fluchterfahrung haben oder in Kriegen mitgekämpft haben, gibt es laut Statistik in Österreich. „Und deswegen kommt die Propaganda in Europa am schnellsten nach Österreich“.
Ahmad kannte auch den Attentäter des Terroranschlags in Wien am Allerseelentag 2020, bei dem vier Menschen getötet und 23 teilweise schwer verletzt wurden. Der junge Mann war in Österreich geboren, seine Eltern stammen aus Nordmazedonien. Er war Sympathisant der Terrororganisation Islamischer Staat gewesen.
Zwei Phänomene könnten laut dem Soziologen Güngör in naher Zukunft zum Risiko werden: Zum einen würden die Dschihad-Rückkehrer bald aus den Gefängnissen entlassen, ihre Deradikalisierung sei ungewiss. Außerdem würden die kurdische Widerstandsbewegung die Kämpfer in ihren Lagern gerne loswerden und nach Europa zurückschicken. Hinzu komme die Frage, wie sich Kinder einstiger Dschihadisten entwickeln, deren Väter im Krieg getötet wurden.
Einzige Lösungsmöglichkeit: Das Gespräch suchen und im Gespräch bleiben. Das praktiziert alltäglich Gruppeninspektor Uwe Schaffer, dem die Migrantenmilieus, insbesondere die der Tschetschenen, die in seinem Bezirk stark vertreten sind, schon lange vertraut sind: „Bevor ich Ahmad kannte, habe ich schon mit der tschetschenischen Community zusammengearbeitet und bin drauf gekommen, dass es da wirklich Top-Leute gibt unter den Tschetschenen, dass nicht alle auf der Straßen Stunk machen.“
Es gehe um den kulturellen Hintergrund. „Und da muss man sich wirklich in die jeweilige Kultur hineindenken und die Kultur erfahren, indem man eben mit den Leuten der einzelnen Communities spricht.