An der olympischen Zukunft des E-Sports führt kein Weg mehr vorbei. Zu groß ist mittlerweile die Branche, zu viel Geld ist dort im Spiel, zu wichtig ist die Zielgruppe auch für den traditionellen Sport. Es gibt aber Kritik an der Annäherung zum IOC.
Als ehemaliger Leistungssportler war das Florett für Thomas Bach wie ein verlängerter Arm. Eine Fechtwaffe mit einer 90 Zentimeter langen Klinge aus federndem Stahl, deren Spitze im Wettkampf in Richtung des Rumpfes des Gegners gestoßen wird. Im weitesten Sinne betrieb Bach also eine Waffensportart mit dem Ziel, möglichst viele Treffer am gegnerischen Körper zu landen. Und der gebürtige Würzburger war sehr gut darin. Er gewann mit der deutschen Mannschaft 1978 in Montreal Olympia-Gold und wurde zweimal Weltmeister. Doch jener Thomas Bach – inzwischen Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) – sprach sich vor ein paar Jahren gegen die Aufnahme des E-Sports ins olympische Programm unter anderem mit der Begründung aus, dass ihm zu viele Spiele zu brutal erschienen. „Wir haben eine rote Linie, wenn es um eine Aktivität geht, bei der es um die Verherrlichung von Gewalt oder Diskriminierung geht“, sagte Bach vor fünf Jahren: „Die kann nicht überschritten werden. Da sind wir uns absolut klar.“
Diese rote Linie gilt auch heute noch, doch die Ausgangslage hat sich verändert. Zum einen ist die E-Sport-Szene in den vergangenen Jahren noch einmal massiv gewachsen und hat sich zu einem gigantischen Wirtschaftszweig entwickelt, den auch das IOC nicht länger ignorieren kann. Zum anderen hat es seitdem Annäherungen zwischen dem Ringe-Orden und den Funktionären des E-Sports gegeben. Im vergangenen Sommer fand in Singapur die erste „Olympic Esports Week“ des IOC statt, und bei der 141. Generalversammlung im vergangenen Oktober im indischen Mumbai überraschte Bach mit einer Ankündigung: Die zuständige Kommission solle prüfen, ob und wie Olympische Spiele im E-Sport realisiert werden können. Auch innerhalb des IOC mit den weitestgehend älteren Funktionären und Amtsträgern herrscht die vorrangige Meinung: Ohne eine Öffnung für Gamer und Zocker ist die olympische Zukunft gefährdet. Weltweit seien rund drei Milliarden Menschen in den Bereichen E-Sports und Gaming aktiv, erläuterte Bach. Davon würden sich geschätzt 500 Millionen Menschen vor allem für virtuelle Sportarten und Sportsimulationen interessieren. „Was für uns noch relevanter ist“, äußerte der IOC-Boss: „Die Mehrheit von ihnen ist unter 34 Jahre alt.“ Und damit die Zukunft.
Drei Milliarden E-Sportler
Auch das IOC weiß: Wer sich am Rennen um die Zielgruppe der jungen Menschen nicht beteiligt, wird über kurz oder lang auf der Strecke bleiben. Deshalb sind seit Tokio 2021 auch Sportklettern, Skateboard und Surfen olympisch, und bei den diesjährigen Sommerspielen in Paris werden im Breakdance erstmals Medaillen in einem Tanzsport vergeben. Die Organisatoren von Paris 2024 haben sich auch offen für die Aufnahme von E-Sport ins Programm gezeigt. „Lasst es uns anschauen, lasst uns mit ihnen sprechen und ausprobieren, ob wir einige Brücken finden können“, sagte Tony Estanguet, IOC-Mitglied und zugleich OK-Chef für die Paris-Spiele. Der frühere Kanuslalom-Olympiasieger aus Frankreich betonte, dass das Thema unter den Jugendlichen über alle Kontinente verteilt zu groß sei, um es auf der größten Sportbühne der Welt zu ignorieren. Doch vor einigen Jahren hatte es noch Ressentiments aus IOC-Kreisen gegeben, weil es in der E-Sport-Szene zu wenig Regulierung und kaum vereinheitlichte Standards gab. Doping-Kontrollen etwa seien schwer umzusetzen, lautete ein Kritikpunkt.
Zuletzt hatten sich die olympische Bewegung und die E-Sport-Branche angenähert – was jedoch nicht allen gefiel. Die Auswahl der Disziplinen und Spiele für die Olympic Esports Week in Singapur hatte für reichlich Spott und Kritik unter den Gamern gesorgt. „Eine weitere Hammer-Entscheidung von willkürlichen Beratern mit absolut keinerlei Einblick darin, was E-Sport ist“, reagierte zum Beispiel der Däne Casper Due, seines Zeichens Trainer des Online-Spiels „Counter-Strike: Global Offensive“, harsch via X (ehemals Twitter). Das IOC hatte die (E-)Sportarten Bogenschießen, Baseball, Schach, Radfahren, Tanzen, Motorsport, Segeln, Taekwondo und Tennis ins offizielle Programm gehoben und war damit sehr nahe am realen Olympia geblieben. Erfolgs-Hits wie „Fortnite“, „League of Legends“ oder „Call of Duty“ fanden dagegen keine Berücksichtigung, weil sie den Olympia-Machern vermutlich zu viel Gewalt enthalten. Dies sei jedoch „ein Missverständnis“, wie der frühere Präsident des „eSport-Bundes Deutschland“, Hans Jagnow, behauptet: „In Counter-Strike schießen nicht die Spieler aufeinander, sondern die Spielfiguren.“ Nach dem Spiel würden sich die Kontrahenten wie in jedem anderen Sport auch die Hände reichen. Aus sporttheoretischer Sicht gebe es zudem keinen Unterschied zwischen einem sogenannten „Ballerspiel“ und einem virtuellen Basketball-Spiel. Die Anforderungen an Fingerfertigkeit, Konzentration, Reaktionsschnelligkeit und Auffassungsgabe seien dieselben.
Kritik wurde aber nicht nur an den Disziplinen geübt, sondern auch an den dazu ausgewählten Spielen, die vermutlich vielen Gamern bekannt sein dürften. Mit „Tic Tac Bow“ und „Tennis Clash“ wurden sogar Mobile Games als Wettkämpfe ausgetragen. „Dies sind, mit der Ausnahme von ‚Gran Turismo‘ und bis zu einem gewissen Punkt ‚Just Dance‘, keine etablierten E-Sportarten“, urteilte die britische E-Sports-Moderatorin Frankie Ward, die den IOC-Machern riet: „Nennt es vielleicht nicht E-Sports, sondern ein virtuelles Event.“ Sportwissenschaftler Ingo Froböse sieht die IOC-Strategie aber als richtig an. Sportsimulationen seien der „softere Weg, der am ehesten in der Gesellschaft verständlich ist“ und somit auch der älteren Generation die Idee des E-Sports vermitteln könne, meinte der Professor an der Deutschen Sporthochschule Köln: „Erstmal müssen die klassischen Sportarten das Feld besäen, bevor man ‚Counter-Strike‘ angeht.“
Kritik an der Titelauswahl
Aus dem IOC hört man – wenig überraschend – nur Gutes über den eingeschlagenen Weg. „In Singapur haben wir bewiesen, dass unser holistischer Ansatz funktioniert. Wir haben erfolgreich die olympische und die E-Sport-Community zusammengebracht“, sagte Bach. Bei der Olympic Esports Week waren über 130 Spieler in zehn gemischten Kategorien gegeneinander angetreten und hatten laut Bach für einen „vielversprechenden Start“ gesorgt. Der südafrikanische E-Sport-Radfahrer James Barnes sagte ins IOC-Mikrofon: „Es ist aufregend, ein Teil des Events zu sein. Ich denke, für uns alle wird ein Traum wahr. Keiner von uns hätte als kleines Kind daran gedacht, einmal ein Teil von Olympia zu werden.“
Die im Jahr 2021 entwickelte Olympic Virtual Series, das Pilotprojekt des IOC in diesem Bereich, hat nach offiziellen Angaben inklusive der Qualifikationsturniere über eine halbe Million Teilnehmer angezogen. Weltweit hätte es auf allen übertragenden Kanälen sechs Millionen Aufrufe gegeben, wobei 75 Prozent der Zuschauer zwischen 13 und 34 Jahren alt waren. Also genau die Zielgruppe, die auch durch Olympische Spiele im E-Sport erreicht werden soll. Wann dieses Mega-Projekt realisiert wird, ist noch offen. Genau wie die Frage, ob es ein eigenständiges Event oder in den Ablauf der Olympischen Spiele integriert wird. Vielleicht ja sogar schon 2028 in Los Angeles. Doch der Weg ist vorgezeichnet. Die Spielebranche gibt seit Jahren Millionensummen für Lobby-Arbeit aus, bei den Asienspielen 2022 war E-Sport bereits Teil des Programms. Die Olympia-Aufnahme wäre gut fürs Image – auch für das des IOC.
„Der traditionelle Sport würde viel mehr von der Jugendkultur profitieren als umgekehrt“, glaubt Sportwissenschaftler Froböse. Ohne eine stärkere Fokussierung auf das, was die jungen Menschen bewegt, werde das IOC diese Zielgruppe verlieren und damit auch die Sponsoren und das Medieninteresse. E-Sport-Pionier Ralf Reichert, Gründer der Electronic Sports League (ESL), meint: „Wahrscheinlich braucht weder Olympia den E-Sport, noch der E-Sport Olympia.“ Dennoch würde eine Vereinigung Sinn ergeben: Computerspiele seien nun mal „das Medium, das es am besten versteht, Wettbewerber aus aller Welt gegeneinander antreten zu lassen und so zu vereinen“.