Nach zwei Seuchenjahren braucht Maximilian Schachmann dringend Erfolgserlebnisse. Sein Vertrag bei Bora-hansgrohe läuft aus. Doch der Berliner weiß aus eigener Erfahrung, dass Überstürzen nichts bringt.
An seine bislang letzte Tour de France denkt Maximilian Schachmann nicht so gern zurück. Von Anfang an stand die Große Schleife 2022 für ihn unter keinem guten Stern. Eine Woche vor der Grand Dèpart in Kopenhagen zeigte der Corona-Test ein positives Ergebnis – wieder einmal. Schon im Frühjahr davor hatte er sich mit dem Virus infiziert und danach auch noch eine Bronchitis bekommen. Mühsam hatte er sich in eine gute Form gekämpft, nun hieß es wieder Zittern um den Tour-Start. „Ohne die Tour wäre für Max eine kleine Welt zusammengebrochen“, erinnerte sein Manager Jörg Werner damals. Doch Schachmann blieb symptomfrei und lieferte rechtzeitig einen negativen Corona-Test ab. Er durfte für das deutsche Team Bora-hansgrohe starten – doch das war vielleicht zu viel des Eifers.
Nur Platz 45 bei der Tour de France
Die 109. Ausgabe der wichtigsten Rundfahrt im Radsport entpuppte sich als extreme Herausforderung für das Peleton. Die Topfavoriten Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar attackierten sich bei fast jeder Gelegenheit, was Auswirkungen auf alle Fahrer im Feld hatte. Es herrschte große Hektik, auch das führte zu vielen Stürzen. „Weil die alle wieder wie die Kaputten auf dem letzten Zentimeter fahren, es aber nicht können und sich dann an der Straßenkante aufhängen“, hatte sich Schachmann damals sogar öffentlich beschwert. Doch das dicke Ende kam für ihn erst noch. Als er die Tour als 45. der Gesamtwertung beendet hatte, fiel Schachmann in ein Loch. „Die Tour de France war extrem hart. Ich habe sie nicht gut verkraftet“, berichtete er später und gab unumwunden zu: „Danach war der Ofen aus.“ Sein Körper habe auf das Training kaum noch angesprochen, er brauchte immer mehr Zeit zur Regeneration selbst nach harmlosen Einheiten. „Da konnte man nichts anderes machen als zu pausieren.“
Bei Schachmann wurde ein Erschöpfungssyndrom diagnostiziert – nicht nur, aber vor allem für Leistungssportler eine Horror-Diagnose. „Ich habe nachts zwischen zehn und zwölf Stunden geschlafen und mittags noch mal zwei. Sonst sind es bei mir sieben bis acht Stunden, ohne Mittagsschlaf“, erzählte der Radprofi über sein Leben von damals. Gut gefühlt habe er sich nach dem vielen Schlaf aber nie. Erst nach sechs Wochen kompletter Trainingspause war es bei ihm langsam aufwärts gegangen. Bis zum nächsten Rückschlag. Erkrankungen und Verletzungen warfen den zweimaligen Gewinner des Frühjahrs-Klassikers Paris-Nizza immer wieder zurück. Auf die Tour de France 2023 verzichtete er aus den Erfahrungen des Vorjahres freiwillig, weil er es „etwas konservativer angehen“ und eine „klügere Entscheidung“ treffen wollte. Ob er in diesem Sommer für die Große Schleife als Helfer für Bora-hansgrohe-Kapitän Primoz Roglic an den Start gehen wird, steht in den Sternen. Viel hängt davon ab, ob er weitere Rückschläge kassiert. Und vor allem: wie er sie verkraftet.
„Ich bin jetzt gesund. Das ist schon mal die Grundvoraussetzung für ein gutes Jahr“, sagte Schachmann Ende Januar der Nachrichtenagentur dpa. Er verriet zudem: „Ich habe einen anderen Trainer, die Zusammenarbeit ist richtig gut.“ Im Herbst hatte er kurz vor dem Start ins Trainingslager wieder mit einer Infektion zu kämpfen gehabt. Doch zurückblicken will der 30-Jährige nicht mehr, er schaut nur noch nach vorne. Auch, weil seine sportliche Zukunft auf dem Spiel steht. Sein Vertrag beim deutschen Rennstall läuft am Ende dieser Saison aus, er will und muss in diesem Jahr zeigen, dass er weiter als Leistungssportler erfolgreich sein kann. Ansonsten hat er wenig Argumente für einen Verbleib bei seinem Team, für das er mal ein großes Aushängeschild war. Und das ihn deswegen in der schwierigen Zeit auch stets unterstützte. „Natürlich will ich gut und erfolgreich fahren“, sagte Schachmann, „aber das wollte ich zu jeder Zeit in meiner Laufbahn“. Mit dem auslaufenden Vertrag habe dies also aber nur am Rande zu tun.
Die Team-Bosse spielen in dieser Frage aktuell auf Zeit. Schachmann soll kleinere Wettbewerbe bestreiten wie jüngst die Alula-Tour in Saudi-Arabien, um sich dort den Rhythmus und auch das Selbstvertrauen auf seinen Körper zurückzuholen. Starts bei größeren Events wie dem traditionsreichen Etappenrennen Paris-Nizza (3. bis 10. März), das er bereits zweimal (2020 und 2021) gewinnen konnte, sind in diesem Frühjahr für ihn eher zweitrangig. „Wenn man schnell fährt, fährt man die großen Rennen. Wenn nicht, dann eben nicht“, sagte er lapidar. Geduld ist gefragt, was angesichts seiner Vertragssituation eine ziemliche Herausforderung ist. Aber die Vergangenheit hat gelehrt, dass Schachmann behutsam an größere Aufgabe herangeführt werden muss. „Es gab Situationen, in denen wir es definitiv überstürzt haben und im Nachhinein sagen müssen: Okay, er hätte länger trainieren sollen, anstatt ihn zu Rennen zu schicken“, gab Bora-hansgrohe-Sportchef Rolf Aldag zu. Auch Teamchef Ralph Denk warnt vor zu großer Eile, er macht dem Fahrer aber auch Hoffnung: „Wir schauen, wie sich das erste Drittel entwickelt. Es würde mich sehr freuen, wenn er wieder dahin kommt, wo er schon einmal war.“
Schachmann, der seine Karriere beim Marzahner RSC Berlin ’94 begann, war vor nicht allzu langer Zeit ganz oben. Neben den zwei Paris-Nizza-Triumphen kann er einen Etappensieg beim Giro d’Italia (2018) und zwei deutsche Meistertitel vorweisen. Auch bei den Ardennen-Klassikern Amstel Gold Race und Lüttich-Bastogne-Lüttich glänzte der Allrounder. Er galt neben Teamkollege Emanuel Buchmann als deutscher Top-fahrer, dem Experten große Siege zutrauten. Die sind noch immer sein Ziel. „Ich würde gern ein Monument und eine Etappe bei der Tour gewinnen“, sagte er: „Aber jetzt muss ich erst einmal sehen, dass ich zurückkomme.“ Und das wird noch ein langer und schwerer Weg, weiß Denk: „Er hat wirklich ganz, ganz harte Jahre hinter sich und wir stehen ziemlich bei null.“
Zwangspause und Babyglück
Dass er in den zwei Seuchenjahren emotional nicht gebrochen wurde, hat auch mit seiner Familie zu tun. „Ich hatte Ablenkung, weil meine Tochter in der Zeit geboren wurde.“ In den ersten Monaten nach der Geburt konnte er sich in seiner Wahlheimat am italienischen Gardasee voll auf seine Vaterfreuden konzentrieren und das Familienglück genießen, denn sportlich musste er ohnehin eine Zwangspause einlegen. Er spüre als Vater eine ganz andere Art der Verantwortung – auch wenn der Großteil gar nicht bei ihm liegt. „Meine Frau managte das sehr gut, obwohl sie oft in unserem Zuhause am Gardasee allein ist, weil ihre Familie in Peru lebt.“
Auch kleinere Erfolgserlebnisse auf dem Rad geben ihm Zuversicht für die Zukunft. Sein erster Platz auf der dritten Etappe der kleineren Sibiu-Tour in Rumänien im vergangenen Juli, sein erster Sieg seit über zwei Jahren. Nach einer erfolgreichen Attacke sieben Kilometer vor dem Ziel und dem Passieren des zehn Kilometer langen Schlussanstieges durfte Schachmann endlich wieder die Arme zum Jubeln ausbreiten und das süße Gefühl des Sieges genießen. „Ich bin wirklich glücklich! Nach so langer Zeit ist es toll, wieder ganz oben auf dem Podium zu stehen“, sagte er damals. Dieses Gefühl will er wieder erleben. Am liebsten natürlich bei der Tour de France. Doch überstürzen wird es Maximilian Schachmann sicher nicht noch mal.