In Russland wird Mitte März gewählt. Das Ergebnis dürfte allerdings jetzt schon feststehen. Die „Wahl“ hat für das System einige wichtige Funktionen.
Die Nachricht vom Tod des wohl bekanntesten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny war ein Schock. Nicht nur Menschenrechtsaktivisten, sondern selbst US-Präsident Biden machen den russischen Präsidenten Putin direkt verantwortlich. Das Regime reagierte auf spontane Gedenkaktionen, wie kaum anders zu erwarten, mit Festnahmen und Haftstrafen.
Wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Russland, die vom 14. bis 17. März abgehalten werden soll, ist das ein Schlag für die verbliebene Opposition. „Der Tod des politischen Gefangenen Nawalny ist ein schweres Verbrechen des russischen Staates. Es ist zugleich Symbol für die Brutalität des Regimes nach innen und außen“, kommentiert der Russland-Experte Johannes Varwick gegenüber dem Portal web.de. Ähnlich beurteilt es Tobias Fella vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg: „Der Kreml hält sich für so stabil, dass er das absorbieren kann“, und es sei eben ein „Signal, was passieren kann“.
Tod Nawalnys ein „Signal des Kreml“
Dabei hat der amtierende Präsident Putin systematisch dafür gesorgt, dass er wiedergewählt wird. Alle prominenten Kritiker sind inhaftiert und zu teils schweren langen Haftstrafen verurteilt, andere sind aus Russland geflohen oder anderweitig mundtot gemacht worden.
Außerdem wurde die Zahl möglicher Präsidentschaftskandidaten bereinigt, zuletzt Boris Nadeschdin von der Kandidatenliste gestrichen. Bei seinen Unterstützerunterschriften hätte es Fehler und Mängel gegeben, wird offiziell von der Wahlkommission verlautbart. Das klingt so, als hätte es eine rechtsstaatlich ordentliche Prüfung gegeben – wie überhaupt versucht wird, der Wahl einen ordnungsgemäßen Anstrich zu geben. Andere Bewerber hatten von sich aus ihre Kandidatur zurückgezogen.
Offiziell sind von ursprünglich elf Bewerbern nur noch vier übriggeblieben. So sieht es zumindest auf dem Zettel ein bisschen nach Wahl aus. Allerdings hat Putin schon früh dafür gesorgt, dass er weitermachen kann, gegebenenfalls bis 2036. Möglich gemacht hat das eine Änderung der Verfassung.
In Russland darf ein Präsident maximal zwei Amtszeiten hintereinander regieren. Das entspricht auch der Regel in westlichen Präsidialsystemen wie den USA oder Frankreich. Putin hat für sich eine Ausnahme konstruieren lassen. 2021 gab es eine Verfassungsreform, die weiterhin die Begrenzung vorsieht. Die gilt ab dem Inkrafttreten der neuen Verfassung. Was vorher war, wird nicht mitgezählt. Putin fängt somit also quasi bei null an. Die Amtszeit des russischen Präsidenten wurde gleichzeitig auf sechs Jahre verlängert, er könnte jetzt also noch zwölf weitere Jahre regieren.
Seit 2000 ist Putin an der Macht und hat sich diese schon einmal durch einen Verfahrenstrick gesichert. 2008 durfte er nach zwei Amtsperioden (damals noch für je vier Jahre) nicht mehr kandidieren. Also tauschte er kurzerhand mit dem damaligen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew die Funktionen. Medwedew zog sich absprachegemäß nach vier Jahren wieder zurück, Putin begann seine zweite Präsidentschaftsrunde.
Die neue Verfassung, die Putin eine Amtszeit bis 2036 ermöglicht (er wäre dann 84), wurde durch ein Referendum abgesegnet, mit 78 Prozent Zustimmung zur neuen Verfassung. Das Referendum war begleitet mit Versprechen wie Rentenanpassung und Mindestlohn. Derartige Verknüpfungen sind klassische Instrumente im Handwerkskasten von Populisten und Autokraten.
Zwei Jahre nach dem Überfall auf die Ukraine, der Umstellung der russischen Wirtschaft auf Kriegswirtschaft, wird es solche Junktims wohl nicht geben. Inzwischen sind sie aber auch nicht mehr nötig. Bleibt die Frage, warum Autokraten und autoritäre Herrscher wie Putin überhaupt so etwas wie Wahlen durchführen lassen.
Mit fairen, freien und gleichen Wahlen, wie sie Prinzip westlicher Demokratie sind, haben diese nichts zu tun. Gemeinhin wird ein System wie unter Putin als „gelenkte Demokratie“ bezeichnet, was nichts anderes ist als eine Scheindemokratie. Eigentlich ein Widerspruch in sich. Wählerinnen und Wähler haben letztlich keine Wahl, weder eine personelle noch eine inhaltliche.
Putin hat zweifelsohne seine Anhänger. Ob die tatsächlich eine Mehrheit der russischen Bevölkerung repräsentieren, lässt sich schwer sagen. Das hat auch damit zu tun, dass sich das System von Putin von einer Autokratie zu einer Schreckensherrschaft weiterentwickelt. Politische Analysten charakterisieren den „Putinismus“ mit Begriffen wie autoritär, diktatorisch, revanchistisch, imperialistisch und teilweise auch faschistisch.
Was die Menschen in Russland wirklich denken, lässt sich kaum feststellen. In einem Staat, in dem man schon beim Schwenken eines kleinen weißen Fähnchens damit rechnen muss, im Knast zu landen, wird kaum jemand sagen, was er oder sie wirklich denkt.
Den allermeisten Russen ist klar, was es mit den „Wahlen“ auf sich hat, egal, ob Putin-Anhänger, -Gegner, oder Menschen, die sich ins unpolitische Private versuchen zurückzuziehen. Dem Rest der Welt ist es ebenso klar.
Dass mit einer solchen „Wahl“ eine Legitimierung der Macht bemäntelt werden soll, mag in bestimmten Phasen noch zutreffend gewesen sein. Diese Phase hat Russland unter Putin aber längst hinter sich. Spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine ist überdeutlich geworden, dass sich Russland auf dem Weg in ein totalitäres System befindet.
Die Bedeutung von Wahlen geht also über eine simple demokratische Fassade hinaus. „Wahlen können die Stabilität des Regimes stärken, ohne dabei demokratische Prinzipien zu erfüllen. Dieses Phänomen wird als ‚electoral authoritarianism‘ bezeichnet“, schreibt Jana Breimaier, die in einer Vergleichsstudie der Frage nachgeht, wozu Wahlen in autokratischen Systemen dienen.
Auf dem Weg zum Totalitarismus
„Manche Wahlen unter autoritären Bedingungen werden unverblümt manipuliert und gefälscht, in anderen Ländern wird ein demokratischer Wahlwettbewerb vorgetäuscht. Andere Autokraten wiederum kritisieren ‚westliche‘ Demokratievorstellungen und treten selbstbewusst für ‚illiberale‘ oder ‚gelenkte Demokratien‘ ein oder propagieren offen ihren autoritären Herrschaftsstil“, analysierte Michael Krennerich von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der Politikwissenschaftler stellte in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung bereits 2017 fest: „Die russische Regierung dient nicht nur als Vorbild für andere Autokraten, sondern betreibt auch eine aktive Politik der Autokratieförderung.“
In Autokratien helfen Wahlen eher dem Autokraten, sein wichtigstes Ziel zu erreichen, nämlich langfristig das Überleben des Regimes zu sichern. In einer Analyse der russischen Abgeordnetenhauswahlen (Duma) 2021 werden drei Hauptfunktionen dieser „Wahlen“ genannt: Erstens tragen sie dazu bei, die Eliten und andere gesellschaftliche Gruppen zu kontrollieren und eine potenzielle Bedrohung des Status Quo zu verringern. Eliten müssen in ihren Bereichen nicht nur für gute Wahlergebnisse, sondern vor allem für hohe Wahlbeteiligung sorgen. Gelingt das nicht in erwartetem Maß, gilt das als Hinweis darauf, dass sie illoyal, unfähig oder unpopulär sind. So wird auch die regionale Elite in Putins Riesenreich über die Ergebnisse der „Wahlen“ kontrolliert. Zweitens können Wahlen dazu beitragen, dass eine Opposition innerhalb der Eliten gespalten wird. Wahlen in einem autoritären System werden kontrolliert, sie zeigen damit, dass Widerstand ziemlich sinnlos ist.
Wenn lange Schlangen vor Wahllokalen zu beobachten sind, zeigen sie die Macht des Systems, das in Behörden und Unternehmen Wähler zwangsmobilisiert. Dazu kommen Manipulationen, die von Experten auch für die letzte Duma-Wahl festgestellt wurden.
Die Analyse kommt zu dem Ergebnis: „Es gibt in solchen Regimen zwar noch Wahlen, doch sind diese eher Fiktion und in ihrer Substanz bedeutungslos. Die jüngsten Tendenzen in Russland deuten darauf hin, dass dies exakt die Richtung ist, in der sich das Regime entwickelt.“