Wie kaum ein Hollywoodstar ihrer Generation ist Emma Stone bereit, ihre Komfortzone zu verlassen und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Wie im aufsehenerregenden Kinofilm „Poor Things“, in dem sie eine junge Frau spielt, der Schamgefühle völlig fremd sind. Eine oscarreife Performance.
Ins Schwärmen zu kommen ist bei Emma Stone leicht. Da muss man nicht Bill Murray heißen, der meint: „Das Mädchen ist pures Gold!“ Oder Ryan Gosling, der lächelnd feststellt: „Emma ist definitiv die Frau, für die ein Mann sich scheiden lässt!“ Oder Rachel Weisz, die sie nicht nur als Kollegin über alle Maßen schätzt, sondern auch von ihrer Natürlichkeit und Intelligenz total begeistert ist.
Sitzt man Emma Stone bei einem Interview gegenüber, versinkt man sofort in ihre grünen Augen, verliebt sich in ihr kehliges Lachen und in ihre tiefe, heisere Stimme – verkneift sich aber zum Glück gerade noch die Frage, ob sie wohl jeden Morgen mit Bourbon gurgelt. Und man ist überrascht, wie geradeheraus und unprätentiös sie ist. Nicht ein Hauch von Hollywoodstar-Dünkel. Von London nach Hamburg eingeflogen, fragt sie als Erstes, wo man hier denn die besten Austern essen könne. Sie ist ganz verrückt nach Austern. Und sie trinkt – als junge Amerikanerin – tatsächlich Champagner oder einen Sancerre dazu. Kein Wasser! Pancakes mit Ahornsirup mag sie auch noch. Und Eier und Speck zum Frühstück. Sunny side up. „Ich halte gar nichts von Diäten. Dazu lebe ich viel zu gern!“ Wenn sie jetzt noch rauchen würde …
„Dann bekam ich meine ersten Panikattacken“
Emma Stone, die 1988 in Scottsdale, Arizona, geboren wurde, wuchs in einem behütenden Elternhaus auf und wollte eigentlich nie Schauspielerin werden, wie sie versichert. „Die Schauspielerei war für mich in erster Linie Selbsttherapie. Als ich sieben war, steckte mich mein Klassenlehrer mit älteren Schülern in eine Theatergruppe, damit ich mich dort etwas abreagieren konnte – ich war nämlich als Kind unheimlich zappelig und vorlaut. Wir haben bei Schulfesten Stücke aufgeführt, alle fanden mich talentiert und vor allem lustig. Dann bekam ich meine ersten Panikattacken.“ Sie hält einen Moment inne, nimmt einen großen Schluck aus dem Wasserglas, das vor ihr auf dem Tisch steht und fährt fort: „Ich war damals bei einem Freund und dachte tatsächlich, das Haus würde abbrennen. Ich rief meine Mutter an, sie brachte mich heim und versuchte, mich zu beruhigen. Der Vorfall hatte zur Folge, dass ich mich schlagartig in mein Schneckenhaus zurückzog und sehr introvertiert wurde. Ich hatte sogar Angst, das Haus zu verlassen und war immer eng an der Seite meiner Mutter. Das dauerte ungefähr zwei Jahre. Ich machte eine Therapie und plötzlich – während einer Sitzung – bekam ich das überwältigende Gefühl, wieder schauspielern zu wollen. Meine Therapeutin fand das gut, also ging ich zu einer Laienschauspieltruppe und fing wieder mit der Schauspielerei an. Das war wie eine Erlösung. Dort fand ich Menschen, die mich verstanden. Und ich konnte meinen Gefühlen endlich freien Lauf lassen. Die Schauspielerei hat mir auf gewisse Weise das Leben gerettet.“
Im Alter von 15 Jahren versammelt Emma Stone ihre Familie im Wohnzimmer ihres Zuhauses in Phoenix, Arizona, und stellt mit einer Powerpoint-Präsentation klar, dass es absolut Sinn machen würde, die High-School abzubrechen und nach Los Angeles zu ziehen, um dort ein Filmstar zu werden. Natürlich hatten ihre Eltern große Bedenken. Doch schließlich hat sich ihre Mutter breitschlagen lassen „und ist mit mir nach Los Angeles gezogen. Sie hat mir auch sehr dabei geholfen, die nötigen Kontakte im Filmbusiness zu knüpfen. Allerdings musste ich ihr versprechen, dass ich – sollte es nicht klappen – wieder mit ihr nach Hause gehen würde.“
Anfangs lief es allerdings alles andere als gut mit dem Traum, in Hollywood Karriere zu machen. Emma Stone wurde regelmäßig schon beim Casting abgelehnt. Ihr Agent war darüber so frustriert, dass er sie irgendwann gar nicht mehr zum Vorsprechen schickte. Das war die Zeit, als sie in einer schicken Hundebäckerei Plätzchen backte und Hundekuchen auslieferte, um sich über Wasser zu halten. Endlich bekam sie ein paar Nebenrollen in TV-Produktionen und gab mit 17 Jahren im TV-Movie „The New Partridge Family“ ihr Spielfilmdebüt. Danach folgten diverse Teenie-Komödien wie „Superbad“ (2007), „House Bunny“ (2008) und „Zombieland“ (2009). Langsam wurde man in Hollywood auf die junge, talentierte Schauspielerin aufmerksam, die so herrlich albern sein konnte – aber auch sexy und empathisch, wenn es die Rolle verlangte. Emma Stone wurde schnell klar: Sie musste durch Fleiß und Können überzeugen. Denn sie war nicht gerade eine klassische Hollywood-Schönheit. Sie erinnerte schon eher an eine junge Lauren Bacall oder Katherine Hepburn, hinterließ aber trotzdem in jedem Film einen frischen, unverbrauchten Eindruck.
Ihren internationalen Durchbruch hatte sie dann gleich mit zwei Kinofilmen. Der erste war die ausgelassene Liebeskomödie „Crazy, Stupid, Love“ (2011), in der sie zum ersten Mal an der Seite von Ryan Gosling vor der Kamera stand. Der verliebt sich als aalglatter Womanizer nach einigen Verwicklungen in Emma Stone alias Hannah, für die er schließlich sogar sein Schürzenjäger-Dasein an den Nagel hängt. Unvergesslich Emma Stones Ausruf beim Anblick von Ryan Goslings nacktem Oberkörper: „Ist das dein Ernst? Du siehst aus wie gephotoshoppt!“ Das war auch die Zeit, als Emma Stone unter anderem auf der Liste des Dessous-Herstellers Victoria’s Secret als „Sexiest Actress“ geführt wurde. „Darüber habe ich mich wirklich sehr gefreut“, lacht sie und knabbert dabei etwas verlegen an ihrer Unterlippe. „Sie müssen wissen: Ich war nicht gerade ein überattraktives Mädchen. In der Schule war ich auch nicht gerade superbeliebt. Und schon gar kein Cheerleader. Ich war weder ein Hingucker noch das Girl, das sich vor Dates nicht mehr retten konnte. Ich war ein Theater-Kid. Eine, die Rollen auswendig lernte. Eine, die einen bestenfalls mal zum Lachen brachte.“
Der andere Film, der ihr große Anerkennung einbrachte, ist die Bestsellerverfilmung „The Help“ (2011), in der sie sich als weiße Journalistin in den frühen 60er-Jahren für die Rechte schwarzer Hausangestellter engagiert. In den USA war das gefühlvolle Drama einer der erfolgreichsten Filme des Jahres. Danach wechselte Emma Stone wieder das Genre und gab in dem Noir-Thriller „Gangster Squad“ (2013), ebenfalls an der Seite von Ryan Gosling, eine klassische Femme fatale mit Schlitz im Kleid. Ein Jahr später spielte sie sich als Peter Parkers Freundin Gwen Stacy in „The Amazing Spider-Man“ endgültig in die A-Liste Hollywoods. Anschließend glänzte sie unter anderem in zwei nostalgisch angehauchten Woody-Allen-Filmen, „Magic in the Moonlight“ und „Irrational Man“, wo sie als junge Frau den alten Hollywood-Glamour mühelos wieder aufleben ließ. Dann folgten das hochgelobte Drama „Birdman“ (2014) und „Cruella“ (2021), Disneys Live-Action-Verfilmung des Zeichentrick-Klassikers „101 Dalmatiner“, wo sie sichtlich sehr viel Spaß daran hatte, sich von der schüchternen Modedesignerin Estella in die rachsüchtige, ultraböse Glamour-Hexe Cruella zu verwandeln. Dabei zeigte sie einmal mehr den Facettenreichtum ihrer Schauspielkunst.
Für „La-La-Land“ 2017 einen Oscar bekommen
Hat sie sich als Schauspielerin, die nie eine formelle Ausbildung hatte, eigentlich je an Vorbildern orientiert? „Natürlich hatte ich Vorbilder: Diane Keaton, Lucille Ball, Bette Davis und die halbe Mannschaft der Kult-Serie ‚Saturday Night Live‘. Denen wollte ich als angehende Schauspielerin nacheifern. Aber was ich in Sachen Disziplin und Arbeits-Ethos gelernt habe, das habe ich mir von meinem Vater abgeschaut. Er hat nämlich aus dem Nichts eine sehr florierende Firma geschaffen und zwar nur mit sehr, sehr harter Arbeit. Er hat mir gezeigt, dass man, wenn man etwas wirklich will, es auch erreichen kann. Man muss nur alle Kraft, die man hat, dafür einsetzen. Und man muss geistig und körperlich topfit sein.“
Zur absoluten Hochform lief sie – wieder mit Ryan Gosling – im Film-Musical „La La Land“ (2016) auf. Die Kritiker waren sich einig: „Stone spielt überragend gut. Sie ist intelligent, witzig, scharfzüngig, aber auch verletzbar und in den richtigen Momenten voller Mitgefühl und Herzlichkeit.“ Für die Darstellung der singenden und tanzenden Schauspielerin Mia bekam sie 2017 den Oscar als beste Hauptdarstellerin. Zwei Jahre später errang sie eine Oscar-Nominierung für ihre Nebenrolle in dem Historienfilm „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“, ihre erste Zusammenarbeit mit dem Regie-Exzentriker Yorgos Lanthimos. In diesem bitterbösen Sittengemälde des englischen Königshofs zu Beginn des 18. Jahrhunderts versucht sie, sich die Gunst der schwachen und kränkelnden Königin Anne zu erschleichen und deren bisherige Vertraute auszustechen. Emma Stone erinnert sich: „Ein fantastisches Erlebnis. Yorgos ist ein Regisseur, der sehr genau weiß, was er will und das auch umsetzen kann. Während der Dreharbeiten kam dann auch noch etwas ‚Alchemistisches’ dazu, das er weder mit uns diskutieren wollte noch erklärte.“
„Es war eine befreiende Entscheidung“
Beide waren durch diese Zusammenarbeit dermaßen voneinander fasziniert, dass sie sich letztes Jahr wieder zusammentaten: für den Film „Poor Things“ (siehe Filmtipp Seite 84). Damit ist Emma Stone ihrem Credo „Ich will mich immer wieder neu erfinden“ treu geblieben. Der New York Times verriet sie: „Die Filmfigur Bella ist wahrscheinlich die Rolle meines Lebens.“ Und die 35-Jährige offenbarte auch noch, dass Scham lange Zeit wie eine Sucht für sie war: „Das lag vielleicht daran, wie ich aufgewachsen bin. Ich wurde lutherisch erzogen und da gab es dieses Konzept von richtig und falsch. Ich habe viele Dinge verinnerlicht, für die ich mich schuldig fühlte oder mich schämte. In den letzten Jahren habe ich damit begonnen zu hinterfragen, warum ich diese Dinge glaube.“ Umso bemerkenswerter also, dass Emma Stone in „Poor Things“ über weite Strecken splitternackt agiert. „Es war eine sehr bewusste, sehr befreiende Entscheidung, Bella so ungezügelt darzustellen.“
Emma Stone hat mit ihrem Ehemann, dem Regisseur Dave McCary, mit dem sie seit 2019 verheiratet ist, eine zweijährige Tochter namens Louise Jean. Zusammen mit ihrem Mann hat sie auch die Produktionsfirma Fruit Tree gegründet, die sich für künstlerisch wertvolle Spielfilme und TV-Serien stark macht. Emma Stone ist in der glücklichen Lage, sich ihre Projekte selbst aussuchen zu können. „Diese Art von Kontrolle ist für mich absolut erstrebenswert“, meint sie ernst. „Ich finde es jedenfalls sehr befriedigend, nicht nur ein Rädchen in einer großen Film-Maschinerie zu sein.“ Im nächsten Jahr können wir uns „Kinds of Kindness“, einen weiteren Film unter der Regie von Yorgos Lanthimos freuen und auf „Cruella 2“. Was für ein Tanz auf dem Hochseil!