Der exzentrische Filmemacher Yorgos Lanthimos dreht in „Poor Things“ den Frankenstein-Mythos lustvoll durch den Gothic-Fantasy-Fleischwolf. Mit Emma Stone als verstörend lüsternes Monster auf einem irren Selbstfindungstrip.
Eine hochschwangere Frau springt von der Londoner Tower Bridge in den Tod. Den Leichnam entdeckt ein exzentrischer Arzt namens Godwin Baxter (Willem Dafoe). Der grotesk entstellte Wissenschaftler reanimiert die tote Frau, indem er ihr das Gehirn des ungeborenen Kindes einsetzt. Mittels Elektroschocks erweckt Baxter sie tatsächlich wieder zum Leben und nennt seine Schöpfung Bella (Emma Stone). Bella nennt ihren Retter: Gott.
So beginnt die bizarr-morbide Phantasmagorie „Poor Things“ des griechischen Filmemachers Yorgos Lanthimos. Wie schon seine früheren Filme – „The Lobster“, „The Killing of the Sacred Deer“ und „The Favorite – Intrigen und Irrsinn“ – zeichnet sich auch sein neues Werk durch eine abgründige Lust an schwarzhumorigen Eskapaden aus, unterfüttert mit grausam-gruseligen Thrillereffekten. Willkommen zum surrealen Karneval schmutziger Phantasien!
Abgründige Lust an Eskapaden
Gefangen in Baxters Stadthaus, erleben wir Bella zunächst als extrem widerspenstiges, geistig unterentwickeltes Kind, das im Körper einer attraktiven jungen Frau steckt. Wie eine staksige Marionette hängt sie an den Schnüren ihres perversen Schöpfers und terrorisiert ihre Umgebung. Sie brüllt unartikuliert, kotzt Essen aus und zerschmeißt kostbare Teller mit ohrenbetäubendem Geschepper. Baxter nimmt all das geduldig hin. Sie ist sein Geschöpf. Ihr will er schließlich Herr werden. Um ihn bei Bellas Erziehung zu unterstützen, stellt Baxter seinen jungen Assistenten Max McCandles (Ramy Youssef) als Hauslehrer an. Es dauert nicht lange, da verliebt sich Max unsterblich in die aufreizend-sinnliche Bella. Nach einiger Zeit gibt Baxter Max sogar die Erlaubnis, Bella zu heiraten – allerdings unter der Bedingung, dass die beiden unter seinem Dach wohnen bleiben. Doch kurz vor der Hochzeit tritt der schmierige Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) in Bellas Leben. Skrupellos verführt er die frühreife, überspannte Jungfrau. In der Folge lernt Bella nicht nur die Masturbation kennen und lieben, sondern wird geradezu süchtig nach Sex.
Emma Stone spielt diesen Übertritt von kindlicher Rebellion zur lebenshungrigen Frau mit entwaffnender Schamlosigkeit. Es ist ihre bisher beste Performance. Schließlich befreit sich Bella auch aus der Domestizierung durch Baxter und brennt mit Duncan durch. Die beiden reisen nach Europa, zuerst nach Lissabon, dann nach Athen und schließlich nach Paris, wo Bella in einem Bordell Unterschlupf und Arbeit findet. Auf dieser lustvoll-obsessiven Odyssee reift Bella langsam zu einer selbstbewussten, emanzipierten und empathischen Frau heran, die ihr Heil zunächst noch in wahllosen Sex-Abenteuern sucht, bevor sie dann auch diese Fesseln abstreift. Schließlich kehrt sie sogar wieder in Baxters Domizil zurück. Allerdings ist sie mittlerweile eine lebenserfahrene und freigeistige Frau, die sich die Zügel nicht mehr aus den Händen nehmen lässt.
Subversive Sozialsatire
„Poor Things“ ist eine fantastische Variation des Frankenstein-Mythos, den Yorgos Lanthimos – mit der mutigen Unterstützung von Emma Stone – als faszinierendes Maskenspiel virtuos inszeniert hat, angesiedelt zwischen Bildungsroman und Steampunk (die moderne Stilform einer Subkultur, die futuristische Aspekte mit Elementen aus dem Viktorianischen Zeitalter verknüpft; Anm. d. Red.). Als Vorlage für den Film dient der gleichnamige Roman des Briten Alasdair Gray. „Poor Things“ ist ein Rausch der Phantasie, in den eine subversive Sozialsatire mit feministischen Untertönen eingewoben ist. In den letzten Bildern des Films wird Baxter von Bella in seinem omnipotenten Wahn, eine Frau als funktionierendes Geschöpf für Männerphantasien zu formen, desavouiert – eine packende Szene von luzider und diabolischer Tragik.
Dieses außergewöhnliche Meisterwerk kann man ohne Weiteres neben die besten Filme von David Cronenberg, David Lynch oder Jonathan Glaser stellen. Kein Wunder also, dass „Poor Things“ schon etliche Preise eingeheimst hat: Letztes Jahr den Golden Löwen für den Besten Film auf den Filmfestspielen in Venedig, vor kurzem den Golden Globe als Bester Film – und auch Emma Stone wurde als Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn Yorgos Lanthimos und Emma Stone bei der diesjährigen Oscar-Verleihung am 12. März nicht mit einem Academy Award nach Hause gehen würden. Der Film ist für elf Oscars nominiert. „Poor Things“ ist bereits Mitte Januar im Kino angelaufen, die Veröffentlichung im allgemeinen Streamingangebot folgt nur wenige Wochen später.