Aus den Ruinen der Stadt Grosny lässt Walter Sperling die Geschichte eines Volkes auferstehen. Für ihn ist die Zerstörung der Stadt in den Tschetschenien-Kriegen der 90er-Jahre Endpunkt der Erzählung.
Diese beginnt ausgehend von der Gründung Grosnys als Festungsstadt des gegen die Bergvölker des Nordkaukasus expandierenden Zarenreichs im 19. Jahrhundert. Die Stadt wird zur Boomtown, als man in der Region beginnt, Erdöl in großem Ausmaß zu fördern. Während der Revolution von 1917 gehen die Bergbewohner ein Bündnis mit den Bolschewiken ein. Später wird das Land der Tschetschenen und Inguschen zu einer autonomen Republik innerhalb der Russischen Sowjetrepublik. Doch als im Zweiten Weltkrieg das nationalsozialistische Deutschland die Nordkaukasier zu seinen Verbündeten auf dem Vormarsch gegen die Sowjetunion machen möchte, geraten die beiden Völker unter Verdacht. 1944 wird deshalb eine halbe Million Menschen nach Zentralasien deportiert. Erst nach Ende der stalinistischen Terrorherrschaft werden die Tschetschenen und Inguschen rehabilitiert und dürfen zurück in die Heimat. Und obwohl sich die Sowjetunion die Völkerfreundschaft auf ihre Fahnen geschrieben hat, ist das Zusammenleben von Russen und Tschetschenen von Irritationen geprägt: Säkularismus gegen Religion, Fortschrittsstreben gegen Tradition.
Letztlich ist die patriarchalische Gesellschaftsordnung des Nordkaukasus doch langlebiger als das Sowjetsystem. Als letzteres 1991 zerfällt, erklärt sich Tschetschenien für unabhängig. Die traditionelle Lebensweise wird zur Staatsnorm. Die Selbstständigkeit ist aber nur von kurzer Dauer und endet in den beiden blutigen Tschetschenien-Kriegen.
In „Vor den Ruinen von Grosny“ spielt die Völkerfreundschaft eine zentrale Rolle. Dabei wird deutlich, wie die ethnische urbane Vielfalt in Europa nach diversen Kriegen Stück für Stück verloren gegangen ist. So ist das Buch nicht nur ein historisches Werk, sondern auch eine präzise soziologische Analyse eines Mikrokosmos.