Deutschlands größter Leichtathletik-Star ist zurück: Nach überstandener Oberschenkel-Verletzung will Malaika Mihambo im Olympiajahr wieder voll angreifen. Ihre Glücksformel hat sie aber bereits gefunden.

Bevor Malaika Mihambo ins stressige Olympiajahr startete, holte sie sich auf höchst ungewöhnliche Weise neue Kraft und weitere Inspiration. Im November ging der deutsche Weitsprung-Star für drei Wochen in ein Kloster, um dort die Erfahrung einer längeren Meditationsphase zu machen. Jeden Tag wurde sie um 5.30 Uhr geweckt, um eine halbe Stunde später bereits mit der ersten Meditation zu beginnen. Für ein erfolgreiches Comeback, aber auch für sich selbst. „Wir haben neue Trainingsimpulse aufgenommen, ich selbst habe noch mal neue Impulse gesucht, wie jetzt zum Beispiel in der Zeit im Kloster“, sagte die Olympiasiegerin und zweimalige Weltmeisterin über die Zeit zwischen ihrer schweren Oberschenkel-Verletzung Mitte Juli, wegen der sie die Leichtathletik-WM in Budapest verpasst hatte, und ihrer Rückkehr im Januar. Sie scheint die Pause gut genutzt zu haben, um sportlich und mental wieder angreifen zu können.
Für drei Wochen im Kloster
Die Olympischen Spiele im kommenden Sommer in Paris sind ohne Überraschung ihr nächstes großes Ziel. Bei der Hallen-DM in Leipzig vor zwei Wochen zeigte sich Mihambo schon wieder in guter Form. Sie sicherte sich zum siebten Mal in Folge den deutschen Meistertitel im Weitsprung, auch die Siegesweite von 6,93 Metern konnte sich sehen lassen. Bis zu diesem Zeitpunkt bedeutete es Platz zwei im weltweiten Ranking, nur die Amerikanerin Tara Davis-Woodhall war bei den nationalen Meisterschaften in den USA mit 7,18 Metern in der Halle weiter gesprungen. Dass Mihambo nur zwei Zentimeter vor der ebenfalls starken Mikaelle Assani landete, machte den Triumph noch süßer. „Mir hat es auch sehr viel Spaß gemacht“, sagte die siegreiche Topfavoritin hinterher: „Es war ein harter Wettkampf, ich bin froh, dass ich so in den Anlauf reingekommen bin.“ Alles in allem deute ihr Auftritt bei der Hallen-DM auf „sehr gute Aussichten für den Sommer“ hin. Auf Paris ist ihr kompletter Trainings- und Wettkampfplan ausgerichtet, deswegen verzichtet Deutschlands Sportlerin der Jahre 2019, 2020, 2021 auch auf einen Start bei der Hallen-Weltmeisterschaft vom 1. bis 3. März in Glasgow – auch wenn sie dort mit der Leistung von Leipzig wahrscheinlich eine Medaille hätte gewinnen können. „Das ist natürlich schade“, meinte Mihambo, „aber gerade in diesem Jahr wird es immer um die Wettkämpfe draußen gehen, da liegt der absolute Schwerpunkt drauf“. Ähnlich sehen es auch andere deutsche Topathleten, die mehrheitlich auf die WM unter dem Dach in Schottland verzichten. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) wird nur mit einem kleinen Team zu den Titelkämpfen nach Glasgow reisen.
Einen letzten Hallen-Start hatte Mihambo am 23. Februar beim Istaf Indoor in Berlin geplant. Das deutsche Prestigevent wollte sich die 30-Jährige auf keinen Fall entgehen lassen. „Das Istaf Indoor ist mit keinem anderen Meeting vergleichbar, die Stimmung ist einmalig“, meinte Mihambo. Auch die Konkurrenz hatte es in sich, so stand unter anderem Hallen-Europameisterin Jasmin Sawyers aus Großbritannien im Starterinnenfeld. Klar ist: Mihambo braucht noch Wettkämpfe, um bei Olympia in Paris in Goldform an den Start gehen zu können. Von ihrem bei der DM in Kassel erlittenen Muskelfaserriss im Oberschenkel hat sie sich zwar physisch erholt. Doch noch fehlt es ein wenig an Rhythmus, Timing, Konstanz und auch an Schnelligkeit. Die braucht sie dringend für ihren Anlauf, da sie hier wieder vermehrt auf einen Sprint vor dem Absprung und weniger auf einen Steigerungslauf setzt.

Doch das eine ist die körperliche Vorbereitung, das andere die mentale. Und hier macht Mihambo kaum jemand etwas vor, die Sportlerin der LG Kurpfalz geht diesbezüglich schon seit Jahren eigenen Wege – mit großem Erfolg. Bei Olympia 2021 in Tokio sicherte sie sich im letzten Durchgang noch Gold, bei der WM ein Jahr später in Eugene verhinderte sie nach zwei ungültigen Versuchen ein frühes Aus und holte kurze Zeit später ihren zweiten WM-Titel. „Ich habe einen inneren Glauben gespürt, der ungebrochen war. Ich war ruhig und gelassen“ – so beschrieb Mihambo einmal ihre Gefühle unmittelbar vor dem Goldsprung in Tokio, der ihr Leben für immer veränderte.
Rassismus schon im Kindergarten
Diese innere Ruhe, Kraft und der Glaube an sich selbst kommen nicht von ungefähr. Malaika Mihambo hat all das erlernt, auf die ein oder andere Weise. Auch das Leben hat es sie gelehrt. Als dunkelhäutiges Kind einer alleinerziehenden Mutter ist sie in Heidelberg aufgewachsen. Geldsorgen begleiteten ihr Leben genau wie Rassismus, der ihr gegenüber mal offen, mal indirekt geäußert wurde. Schon im Kindergarten und später auch in der Grundschule, wo sie „das einzige dunkelhäutige Kind“ gewesen sei, wie sie in der NDR Talk Show berichtete. Die rassistischen Sprüche schmerzten sie sehr, auch wenn ihre Mutter versucht habe, diese im Kontext einzuordnen. Aber: „Ich konnte das gar nicht anders nehmen als persönlich.“ Mihambo, deren Vater aus Sansibar stammt, wurde wegen ihrer Hautfarbe angefeindet. Ein Schüler habe „im Stuhlkreis nicht neben mir sitzen“ wollen, berichtete Mihambo einmal: „Daraufhin sagte die Lehrerin zu mir, dass ich mich wegsetzen soll. Das war besonders hart für mich.“ Als in der Schule die Läuse umgingen, „hieß es, die müssen ja von Maiaika kommen“, erzählte Mihambo: „Als sich dann herausstellte, dass ich keine Läuse hatte, hieß es: Nicht einmal die Läuse wollen zu ihr. Das tat sehr weh.“
Mit der Zeit hinterließ der Rassismus seine Spuren bei ihr. „Irgendwann macht es auch etwas mit dem Selbstwert“, erinnerte Mihambo: „Das ist wirklich schlimm.“ Ihr sei es wichtig gewesen, diese Erfahrungen irgendwie aufzuarbeiten. Sie tat es in dem Buch „Spring dich frei“, das sie während ihrer Verletzungspause im vergangenen Oktober veröffentlichte. Durch das Erstarken der rechtspopulistischen AfD und die zunehmenden Proteste gegen die Partei und den allgemein spürbaren Rechtsruck in Deutschland fällt Mihambos Buch in genau die richtige Zeit. „Ich wollte auch meine Geschichte erzählen, weil ich finde, dass dieses Thema gerade heute so aktuell ist wie nie und es Sinn macht, dass wir darüber mehr sprechen und sich jeder darüber Gedanken macht, wie er dazu beigetragen hat“, sagte die Ausnahmesportlerin und betonte: „Letztendlich sind wir alle beteiligt: als Opfer, Täter oder Zuschauer.“ Schon nach dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau, bei dem neun Menschen mit Migrationshintergrund starben und der sich kürzlich zum vierten Mal jährte, hatte Mihambo warnende Worte ausgesprochen. Dass die Gesinnung mancher Menschen „jetzt mehr ausbricht, ist schon erschreckend“, sagte sie damals: „Ich denke, wir müssen alle mehr an uns selbst arbeiten, glücklichere Menschen zu sein. Dann kann man auch andere in Ruhe lassen.“
Werkzeugkasten des Mentaltrainings
Um glücklich zu sein, müssten die Menschen aber lernen, mit Druck, schlechten Erinnerungen oder auch Fehlern und Rückschlägen besser umzugehen, meinte Mihambo. „Anhand meiner Geschichte will ich zeigen, wie man sich von seinem Rucksack lösen kann und Mut machen, den auch mal leer zu machen“, sagte Mihambo, denn: „Man muss sein Leben lang nicht mit dieser Last rumlaufen.“ Sie selbst hat hart daran gearbeitet, glücklich zu sein. Auch Mihambo, die meist mit einem ansteckenden Lächeln durchs Leben läuft, ist das nicht in den Schoß gefallen. Während ihrer Kindheit und Jugend war sie getrieben vom Drang, es einmal als Leistungssportlerin nach Olympia zu schaffen. Als ihr im Alter von 22 Jahren eine schwere Fußverletzung ereilte, geriet Mihambo in der langen Wettkampfpause stark ins Grübeln: Schaffe ich noch mal den Anschluss? Will ich mich überhaupt noch mal quälen? Was habe ich sonst noch im Leben? Solche Gedanken trieben sie um. Ihr sei damals bewusst geworden, dass sie ihr Leben „so einseitig auf keinen Fall weiterführen wollte“, erzählte Mihambo: „Seitdem habe ich so viele Dinge ausprobiert, mich selbst neu definiert, mich in neuen Facetten kennengelernt.“

Mihambo meditiert nicht nur neben dem Leistungssport, sie studierte auch Politikwissenschaften, spielt leidenschaftlich gern Klavier, bereist mit dem Rucksack oft alleine und für mehrere Wochen fremde Länder und Kulturen. „Man muss das Leben genießen und das Beste draus machen – und das mache ich auch mit Leistungssport“, sagte sie. Dabei folgt sie keinem strikten Plan, sondern in der Regel ihren Instinkten. Es sei richtig, meinte Mihambo, „dass man sich auch öfter im Alltag fragen darf: Bin ich gerade die Person, die ich sein will?“ Man dürfe nicht allein aus Gewohnheit „20 Jahre das Gleiche machen“. Diese Glücksformel versucht sie auch an andere weiterzugeben. Mihambo gibt Onlinekurse, in denen sie laut eigener Internetseite „den Werkzeugkasten ihres Mentaltrainings“ öffnet und aufzeigt, „wie du dich mit Autosuggestion, Visualisierung, Yoga, Meditation und Selbstreflexion mental wappnest“.
All das hilft ihr nach eigener Aussage auch im Wettkampf enorm. „Zum einen bietet die Meditation die Möglichkeit, sich schneller zu fokussieren. Zum anderen hilft sie aber auch, hinderliche Gedanken schneller aufzudecken.“ Diese würden sie dann im Wettkampf nicht mehr belassen, sodass sie ihr „volles Potenzial auch unter Druck umsetzen“ könne. Beim hochkomplexen Technikablauf im Weitsprung ist das ein klares Plus. Doch auch wenn der Sprung misslingt, der Wettkampf ohne Sieg oder Medaille endet – Malaika Mihambo nimmt auch das Sportlerleben, wie es kommt. „Nachdem ich durch eine Krise gegangen bin, hat sich für mich ein ganz neues Leben eröffnet. Deshalb genieße ich es, was so ansteht und was das Leben zu bieten hat“, sagte sie. Die Zeit im Kloster ein dreiviertel Jahr vor den Olympischen Spielen in Paris hätte sich in jedem Fall gelohnt: „Sich mal drei Wochen zurückzuziehen und zu meditieren, bei sich selbst zu sein – das ist eigentlich auch schön.“