Wie ein Donner hallt nach, dass Donald Trump verkündet, er wolle Wladimir Putin „ermutigen“, mit säumigen Nato-Verbündeten anzustellen, „was immer er will“. Das hat Schockwellen ausgelöst. Womöglich sind sie heilsam.
Vielleicht hat Donald Trump mit seiner provozierenden Äußerung, er sei gegenüber Wladimir Putin bereit, die Verteidigung von Nato-Verbündeten aufzugeben, etwas Gutes bewirkt. Von Portugal bis Polen diskutiert man jetzt leidenschaftlich über die militärische Aufstellung Europas gegen den aggressiven Nachbarn Russland. Man hat begriffen, was Wolfgang Ischinger, Altmeister der deutschen Diplomatie, so ausdrückt: „Die Verlässlichkeit des amerikanischen Partners wirkt beschädigt.“ Polens Regierungschef Donald Tusk nennt die Worte des radikal-populistischen Präsidentschaftsaspiranten eine „kalte Dusche“.
Dass man in Polen besonders empfindlich auf das Trumpsche Donnerwetter reagiert, ist verständlich. Das Land grenzt direkt an die russische Exklave Kaliningrad. Die ist, oder besser, war vor dem Krieg mit Waffen vollgestopft. Darunter sind jedoch atomar bestückbare Iskander-Raketen. Ihre Feuerkraft reicht in wenigen Minuten bis Berlin, Stockholm oder Warschau.
Polen befände sich im Falle eines Konfliktes mit an vorderster Front. Einen radikalen Vorschlag zur Sicherung seines Heimatlandes gegen Machtgelüste Putins macht der Pole Jarosław Kraszewski. Der Brigadegeneral und einstige Sicherheitsberater kann sich vorstellen, sein Land nuklearfähig zu machen – das böte „ein unvergleichliches Maß an Sicherheit, “ sagt er.
Lautes Nachdenken über Atomwaffen
Ob die polnischen Gedankenspiele nun realistisch sind oder nicht – in ganz Europa ist eine neue Debatte über ein Nuklearpotenzial in Fahrt gekommen. Ausgelöst hat sie die SPD-Spitzenkandidatin zur Europawahl Katarina Barley. Zum Entsetzen sozialdemokratischer Peaceniks wie Fraktionschef Rolf Mützenich hatte die einstige Bundesjustizministerin unter dem Eindruck, die USA könnten als Atomschutzschildgeber ausfallen, angemerkt, auf dem Weg zu einer europäischen Armee könnten auch Atomwaffen „ein Thema werden.“
Während ihr linker Parteikollege Ralf Stegner dies scharf ablehnt, zeigt sich der christdemokratische Fraktionschef im Europaparlament, Manfred Weber, offen für einen europäischen Nuklearschirm. Europa müsse militärisch so stark werden, „dass sich keiner mit uns messen will“, sagt er. „Dies bedeutet, wir brauchen Abschreckung. Zur Abschreckung gehören Nuklearwaffen.“
Als einer der wenigen SPD-Politiker stellt sich Sigmar Gabriel hinter Barley. Europa brauche durchaus „eine gemeinsame nukleare Komponente“, meint der Ex-Vizekanzler und Ex- Außenminister. Zugleich warnt er davor, dass andere sich vor der EU bewaffnen könnten, „zum Beispiel die Türkei.“ Auch FDP-Chef Christian Lindner (FDP) befürwortet ein Umdenken. Er schlägt eine Kooperation mit Großbritannien und Frankreich vor, den einzigen europäischen Nato-Staaten, die über solche Waffensysteme verfügen.
Solcherlei Überlegungen fahren Bundeskanzler Olaf Scholz in die Parade. Was Deutschland betrifft, hält er die bestehende Nuklearteilhabe für ausreichend, also die Fähigkeit von Bundeswehr-Flugzeugen, in Deutschland stationierte US-Atomwaffen im Ernstfall abfeuern zu können. „Alle Verantwortlichen in der Nato fänden es am besten, wenn es dabei bliebe“, betont Scholz.
Das stimmt tatsächlich nicht so ganz. So versucht der französische Präsident Emmanuel Macron seit Jahren, andere EU-Länder für eine neue Atom-Abschreckung zu begeistern, die er „europäische strategische Autonomie“ nennt. Das Problem: Paris möchte sich zwar die Einbindung seiner Atomwaffen von den anderen Europäern mitbezahlen lassen, aber die alleinige Verfügungsgewalt über die 280 einsetzbaren Sprengköpfe behalten. Innenpolitisch beißt Macron damit auf Granit. Seine Widersacherin von der rechtsextremen Partei Rassemblement National, Marine Le Pen, bewertet das Einbringen französischer Atomstreitkräfte in eine grenzüberschreitende Kooperation als „Vaterlandsverrat“. Damit macht sie Punkte beim erneuten Versuch, die Präsidentschaftswahlen 2027 zu gewinnen.
Das Vereinigte Königreich, das über Jahre die Finanzen für seine Streitkräfte auf Kante genäht hatte, gibt nun mehr Geld für Verteidigung aus. Es übernimmt traditionell schon immer internationale Verantwortung, auch in Krisen. Die Brexit-Folgen schwächen Großbritannien. Verteidigungsminister Grant Shapps klotzt trotzdem. Denn Kriege seien wieder möglich, sagt der konservative Politiker. Als Gefahren nennt er neben Russland explizit Nordkorea, Iran und China. Um dagegen gewappnet zu sein, fordert Shapps rund 60 Milliarden Euro, das wären 2,5 Prozent der jährlichen britischen Wirtschaftsleistung. Aber auch das reicht nicht, sagen Kritiker. Die Summe berücksichtige nicht die Modernisierung des völlig veralteten britischen Atomarsenals und anderer in die Jahre gekommener Waffensysteme. Das dafür nötige Geld überschreitet die Belastungsgrenze vieler Briten, selbst wenn die meisten einer Umfrage zufolge Donald Trump für „das Schlimmste, was Amerika je hervorgebracht hat“ halten.
Die nuklearen Abschreckungsmittel Frankreichs und Großbritanniens könnten den nuklearen Schirm der Vereinigten Staaten sowieso nicht ersetzen, fügen Experten hinzu. Frankreich und Großbritannien unterhalten mit knapp über 500 Atomsprengköpfen zusammengerechnet nur ein Zehntel der Feuerkraft der USA, Russland hat noch mehr im Arsenal.
Verteidigungskommissar in der EU
Also konzentriert sich Europa auf die konventionelle Aufrüstung. Das bedeutet: Mehr neue Panzer, mehr Kriegsschiffe, mehr U-Boote und mehr Mehrzweckkampfflugzeuge. Noch aber ist Europa von selbstständiger Verteidigungsfähigkeit „weiterhin Lichtjahre entfernt“, meint die Tageszeitung „taz“ und warnt: „Dieses Geld muss irgendwo herkommen, entweder durch drastische Steuererhöhungen oder Einsparungen.“
„Europa muss ein starker Kontinent werden“, fordert indessen Tusk. Polen hatte schon unter den nationalkonservativen Vorgängern damit begonnen, massiv aufzurüsten. Die derzeit 164.000 Militärangehörigen sollen mittelfristig auf 300.000 aufgestockt werden. Polen werde eine bedeutende Rolle bei der gemeinsamen Verteidigung der Europäischen Union spielen, beteuert Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz. Er kann drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Armee investieren, fünf Prozent sollen es bald werden – also mehr als in jedem anderen Nato-Land. Zum Vergleich: Die Bundesregierung ist stolz darauf, dass sie mit allerlei Buchungstricks knapp das vielgeforderte Zwei-Prozent-Ziel erreicht, so wie Frankreich und 17 weitere Bündnisländer auch.
Und die Bundeswehr? Sie ist „fest entschlossen, ihre Bürgerinnen und Bürger zu schützen, das Bündnisgebiet zu verteidigen und Freiheit und Demokratie zu sichern“, beteuert die Bundesregierung. Ein Symbol dafür sei das Engagement deutschen Militärs im Baltikum, das als besonders militärisch verwundbar gilt. In Litauen wird eine deutsche Brigade als Großverband höchster Einsatzbereitschaft die Flanke der Nato stärken. Die dauerhafte Stationierung von 5.000 Bundeswehr-Männern und -Frauen in Litauen ist eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik. Bis 2027 soll die kleine Stadt aufgebaut sein. Gerade ist der Startschuss für den Bau von Kasernen und Manövergelände sowie Wohnungen, Schulen und Kitas gefallen.
Trumps Abneigung gegen Europa und die Nato haben europäische Politiker aufgeschreckt. In allen Hauptstädten will man – egal, wer ins Weiße Haus einzieht – mehr für die eigene Verteidigung tun. Nach 75 Jahren Abhängigkeit vom US-Verteidigungsschirm seien „die Zeiten des ‚militärischen Babysittings‘ durch die USA“ vorbei, so WDR-Kolumnist Ralph Sina.
Nicht nur die Nato, auch die EU hat dies verstanden. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will im Falle einer erneuten Amtszeit nach der Europawahl am 9. Juni den neuen Posten eines EU-Verteidigungskommissars schaffen. Sein Job: Koordination der europäischen Rüstungsbeschaffung. Die italienische Zeitung La Stampa bringt auf den Punkt, worum es geht: „Die Lösung liegt nicht darin, Donald Trump bei Laune zu halten. Sie liegt in einer Verteidigung Europas, die Wladimir Putin die Stirn bieten kann.“
Wolf Achim Wiegand ist freier Journalist mit EU-Spezialisierung