Konzerte mit Weltstars, große Ausstellungen, Konferenzen, Food-Workshops und Begegnungen mit Menschen im Süden Estlands – all das (und noch mehr) vereint das Programm der Europäischen Kulturhauptstadt Tartu.
Die Temperatur liegt knapp unter Null, doch die feuchte Kälte hat es in sich. Bürgersteige und Fußwege sind mit einer rutschigen Eisschicht bedeckt, man kommt nur schlitternd voran. Dennoch stehen an diesem Winterabend die Menschen in mehreren Reihen hintereinander am Ufer des zugefrorenen Emajõgi, dem Mutterfluss, der durch Tartu fließt, Estlands zweitgrößter Stadt. Gespannt schauen sie auf die andere Seite des Flusses, wo eine große Bühne und mehrere Screens aufgebaut sind – gleich beginnt die Eröffnungszeremonie für das Kulturhauptstadtjahr. Denn Tartu, das als älteste Stadt des Baltikums gilt, ist in diesem Jahr neben dem österreichischen Bad Ischl und dem norwegischen Bodø eine der drei Kulturhauptstädte Europas.
Und dann geht es los mit der Eröffnungsperformance unter dem Motto „All is one“ – gleich nach den Reden von Estlands Präsident Alar Karis, der estnischen EU-Kommissarin Kadri Simson und Tartus Bürgermeister Urmas Klaas. Mit einer Multimedia-Show, die nicht nur das Flussufer sondern auch die Freiheitsbrücke einbezieht, die mit ihrer Stahlbetonkonstruktion eine moderne Verbindung zur historischen Altstadt darstellt. Von hier kommen bunt gekleidete Akteure angelaufen und angetanzt, vermischen sich immer wieder mit Dutzenden anderer Darsteller zu Tanz- und Pantomime-Szenen, während auf einer Bühne über dem Fluss Livemusik von estnischen Künstlern gespielt wird. Dazu gibt es Videoclips, die von der wechselvollen Geschichte Tartus erzählen. Von der Eroberung der Stadt 1030 durch die Heere Jaroslaws des Weisen und der Rückeroberung durch die Esten wenige Jahrzehnte später und davon, dass die Stadt im 13. Jahrhundert an die Deutschen fiel, Mittelpunkt des Bistums Dorpat und Hansestadt wurde. Im Laufe der Jahrhunderte fiel Tartu an Russland, an Polen, dann an Schweden, wurde wieder Teil des russischen Zarenreichs. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs übernahm die deutsche Armee die Stadt. Anfang 1919 eroberte Estland Tartu zurück und behielt sie bis zur sowjetischen Besatzung. Von 1944 bis 1991 war Tartu zusammen mit dem restlichen Estland Teil der Sowjetunion, 2004 trat Estland der EU bei. Berührender Moment nach diesem historischen Abriss in Videoclip-Form ist eine Filmsequenz, die zum Gesang einer ukrainischen Künstlerin Aufnahmen zerbombter Städte in der Ukraine zeigt. Eine Reminiszenz an die hier lebenden Ukrainer, gemessen an der Landesgröße hat Estland - wie auch Tschechien - im Europavergleich seit Beginn des russischen Angriffskriegs die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Dass das Motiv eine Rolle bei der Eröffnungszeremonie des Kulturhauptstadtjahrs spielt, ist auch ein Zeichen dafür, dass die meisten Esten weiterhin viel Solidarität mit der Ukraine zeigen und eher fürchten, dass diese in anderen Teilen Europas langsam schwindet.
Weit gefasster Kulturbegriff
Doch zurück zum Kulturprogramm, das die Organisatoren in Tartu und im ganzen Süden des Landes in fünf Jahren Vorbereitung für die nächsten Monate auf die Beine gestellt haben. „Arts of Survival“ („Überlebenskünste“), so lautet das ungewollt aktuelle Motto, unter dem sich rund 350 Projekte mit insgesamt 1.000 Events tummeln. Und die höchst unterschiedliche Orte bespielen – vor allem in Tartus mitunter wie ein Patchworkmuster wirkender Innenstadt. Dort liegen historische Bauten aus dem 18. Jahrhundert und Kirchen, die gerade nach und nach restauriert werden, oft ganz dicht bei Gebäuden aus der Sowjetzeit oder moderner Architektur. Ganz bewusst sei das Programm so heterogen und divers wie möglich gestaltet worden, betont Programmdirektorin Kari Torp bei einer Pressekonferenz. Und so gehe es um einen ziemlich weit gefassten Kulturbegriff, der auch Formate mit einschließe, bei denen es um Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders, des Umgangs mit der Umwelt, des Zusammenlebens in Europa gehe.
Events im gesamten Süden Estlands
Da gibt es beispielsweise ein Dokumentarfilmprojekt: Estnische und weitere europäische Filmemacher waren eingeladen, kurze Dokumentarfilme über Tartu und den Süden Estlands zu produzieren, unterschiedlichste Facetten von Kultur und Gesellschaft zu zeigen. Das reicht von Tante-Emma-Läden in kleinen Dörfern bis hin zu Start-ups in Tartu – schließlich gilt die Stadt als Hochburg für die Entwicklung innovativer Ideen und Produkte. Kontrastprogramm bei „Naked Truth“, einem Sauna-Event im Mai. Dabei wird nicht nur die in Estland ziemlich lebendige Sauna-Tradition zelebriert – hier werden die Holzbänke in der Sauna auch zu Diskussionsforen. Es darf und soll gerne „hitzig“ debattiert werden – zu Themen wie Tradition, Frieden und Nachhaltigkeit. Dafür werden mobile Saunen am Ufer des Emajõgi aufgebaut, immer zur vollen Stunde soll jeweils eine neue Runde der „nackten Wahrheit“ beginnen. Andere Programmpunkte widmen sich dem Thema Nachhaltigkeit wie die Konferenz „Sustainability in Practice“ oder das Kanepi-Festival, das im gleichnamigen Ort im Juli die „Superpflanze“ Hanf mit ihren verschiedensten Einsatzmöglichkeiten zelebriert („Kanepi“ ist das estnische Wort für Hanf).
Und ja, natürlich gibt es auch die Blockbuster-Events – Sting wird am 10. Juni in Tartu auftreten, Bryan Adams ist der prominenteste Act beim „Tartu Song Festival“ Anfang Juli. Der japanische Medienkünstler Ryoji Ikeda zeigt im Estnischen Nationalmuseum, einer beeindruckenden Glas- und Stahlkonstruktion auf dem Gelände des ehemaligen sowjetischen Flugplatzes Raadi, neu geschaffene Installationen. Und verwendet dabei Musik, die in Zusammenarbeit mit dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor entstanden ist. Ebenfalls im Nationalmuseum eröffnet Anfang April die Ausstellung „Surrealism 100“, sie ist eine Hommage auch an den estnischen Künstler Ilmar Malin (1924–1994), der in Tartu in der Gruppe Para ’89 surrealistische Künstler um sich versammelte. Aber auch eine Art „Best of“ surrealistischer Kunstwerke in Zusammenarbeit mit der Nationalgalerie in Prag. Ergänzt werden diese Events mit Strahlkraft von Dutzenden kleinerer und kleinster Veranstaltungen in der Region, denn der gesamte Süden Estlands ist ins Programm der Kulturhauptstadt einbezogen. Auf dem zugefrorenen Peipussee, durch den die Grenze zwischen Estland und Russland verläuft und der der fünftgrößte See in Europa ist, können Besucher eine Parade fantasievoll geschmückter Schneemobile und selbstgebauter Fahrzeuge mit großen Reifen bestaunen, bevor es ans Verkosten regionaler Spezialitäten geht. Im Städtchen Polva, wo das Kulturhauptstadtjahr einen Tag nach der offiziellen Eröffnung in Tartu in fast familiär wirkender Atmosphäre mit Folk- und Ska-Bands eröffnet wurde, ist unter anderem ein 24-Stunden-Festival geplant.
Aufmerksamkeit für ethnische Minderheit
Außerdem finden über den Sommer immer wieder Feste in kleinen Dörfern in der Umgebung statt. Ebenso wie in Setomaa, der Region ganz im Südosten des Landes an der russischen Grenze. Hier leben die Seto, eine ethnische Minderheit. Sie sind unter anderem für ihre aufwendigen traditionellen Trachten bekannt und für den Seto-Leelo-Gesang, der 2009 von der Unesco auf die Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt wurde. Sie sprechen eine eigene Sprache, die sich von der estnischen unterscheidet und am ehesten als südestnischer Dialekt einzuordnen ist. Gesprochen wird sie allerdings von immer weniger Menschen.Auch jahrhundertealte Traditionen wie die Herstellung bestimmter Kleidungsstücke und Schmuckstücke aus Silbermünzen drohen im immer schneller werdenden Alltag in Vergessenheit zu geraten. An dieser Stelle kommt Helen Külvik ins Spiel. Die studierte Geografin und Reiseleiterin gehört wohl zu den engagiertesten Botschafterinnen für die Kultur und Sprache der Seto. Sie singt in zwei Seto-Leelo-Chören, bestreitet dabei regelmäßig Auftritte bei Messen oder Großveranstaltungen wie rund um die Eröffnung des Kulturhauptstadtjahrs in Tartu. Und sie arbeitet im sogenannten Seto Institut in Värska, das dort in einem grün gestrichenen stattlichen Holzgebäude mit Turm, dem ehemaligen „Generalshaus“, seine Büroräume hat. Von hier aus werden unterschiedlichste Programme angeschoben und Fördermittel dafür beantragt. Zum Beispiel geht es darum, für Schulen Projekttage, Workshops oder regelmäßige Angebote zu organisieren, bei denen Kinder und Jugendliche mit ihrer Kultur wieder vertrauter gemacht werden. Dazu wurden in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Büchern in der Seto-Sprache veröffentlicht. Das ist erstaunlich, da die Kultur eigentlich auf mündlicher Überlieferung beruht. Außerdem gibt es eine Tageszeitung auf Seto und ein kleines „Regionalfenster“ im estnischen staatlichen Rundfunk.
Es sei eine echte Herausforderung, gerade die Sprache lebendig zu halten, sagt Helen Külvik. Aber sie ist optimistisch – viele jüngere Menschen interessierten sich heutzutage wieder stärker für ihre Wurzeln, sähen diese auch als Gegengewicht zum hektischen Alltag. Und jetzt, da Tartu und der gesamte Süden Estlands ein ganzes Jahr lang die Chance hätten, nicht nur Menschen im eigenen Land und im Baltikum sondern weit darüber hinaus vom kulturellen Reichtum der Region zu überzeugen, könne sich das doch nur positiv auswirken.