Ein Finale ist es streng genommen nicht, aber das Topspiel zwischen dem SC Magdeburg und den Füchsen Berlin hat ohne Zweifel Endspiel-Charakter. Der Sieger macht einen großen Schritt Richtung Handball-Meisterschaft.
Stefan Kretzschmar ist seit vielen Jahren im Profigeschäft, und er weiß ganz genau um seine Popularität im Handballsport. Wenn einer wie er etwas über die Zukunft auf dem Posten des Bundestrainers der Handball-Nationalmannschaft sagt, nimmt das die Szene hellhörig auf. Und deswegen glauben die wenigsten an einen Zufall, dass der Sportvorstand der Füchse Berlin kürzlich den Magdeburger Erfolgscoach Bennet Wiegert dafür ins Spiel gebracht hat – ausgerechnet vor dem Bundesliga-Topspiel zwischen Berlin und Magdeburg. „Ich bin jetzt kein Verantwortlicher vom DHB“, sagte er im Dyn-Talk „Harzblut“ mit den Ex-Stars Pascal Hens und Michael Kraus: „Aber wenn ich einer wäre, dann würde ich anders rangehen an die Sache. Ich würde mir von Alfred seine Vision 2027 erzählen lassen. Und dann würde ich mich mit Benno treffen.“ Alfred Gislason ist seit Anfang 2020 verantwortlicher Bundestrainer, bei der jüngsten Heim-EM hat er die DHB-Auswahl auf Platz vier geführt. Doch die erhoffte direkte Olympia-Qualifikation wurde verpasst. Bis zum Redaktionsschluss war die angedachte Vertragsverlängerung noch nicht unter Dach und Fach, was Raum für Spekulationen ließ. Und Kretzschmar füllte diesen Raum – auch aus vereinstaktischen Gründen?
„Schön, dass man mir das zutraut“
Manche meinen, der Sportvorstand der Füchse habe vor dem Gipfeltreffen der Handball-Bundesliga am Sonntag (10. März) zwischen dem Hauptstadt-Club und dem SC Magdeburg etwas Unruhe beim Gegner auslösen wollen. Denn Wiegert ist unbestritten der Vater des Erfolgs beim Champions-League-Sieger, Diskussionen um seine Zukunft kann in Magdeburg in der heißen Saisonphase niemand gebrauchen. „Ich würde ihn fragen: Könntest du dir das überhaupt vorstellen? Und wie ist deine Vision? Und dann würde ich mir beide Sachen anhören und danach würde ich entscheiden“, sagte Kretzschmar. Sollte sich der Deutsche Handball-Bund (DHB) zu einer Neuausrichtung mit einem anderen Trainer entscheiden, könne dieser nur Bennet Wiegert heißen, meinte der frühere Weltklasse-Linksaußen: „Das ist zurzeit meine Einschätzung und mein Gefühl, wenn ich was verändern möchte.“ Öffentliche Unterstützung erhielt Kretzschmar durch Ex-Weltmeister Kraus, der zu seinem früheren DHB-Teamkollegen sagte: „Danke! Das sage ich doch schon seit zwei oder drei Jahren!“
Dem Hochgepriesenen machte die ganze Aufregung äußerlich nichts aus. „Ich sehe das ganz entspannt und nehme die Spekulationen mit einem Lächeln zur Kenntnis“, sagte Wiegert der Nachrichtenagentur SID. Natürlich fühle er sich geschmeichelt, denn „der Bundestrainer ist das größte Traineramt im deutschen Handball“, und es sei „schön, dass man mir das zutraut“. Und es sei auch „eine Wertschätzung der Arbeit, die meine Mannschaft Tag für Tag leistet“. Aber der DHB verfolge einen klaren Plan, und der sehe eine Vertragsverlängerung mit Gislason vor, so Wiegert. Langfristig könne er sich den Job durchaus vorstellen, aber „kurzfristig stellt sich diese Frage für mich nicht“. Kurzfristig hat der SCM-Coach ein großes Ziel: Seinen zweiten Meistertitel mit Magdeburg nach 2022 zu gewinnen. Vor zwei Jahren hatte er mit seinem Team eine 21-jährige Durststrecke des Traditionsclubs beendet. Jetzt käme der Titel deutlich weniger überraschend, er wäre aber deswegen nicht weniger wert. Der amtierende Champions-League-Sieger spielt bislang eine bärenstarke Bundesligasaison, nur ein Team kann da mithalten: Die Füchse führten die Tabelle nach dem 22. Spieltag mit 39:5 Punkten knapp vor Magdeburg (36:6) an, das zu dem Zeitpunkt jedoch ein Spiel weniger ausgetragen hat. Klar ist, dass das direkte Aufeinandertreffen der beiden Topteams am Sonntag entscheidenden Charakter für das Titelrennen hat.
Als Psychologe gefordert
Dass die Berliner definitiv als Tabellenführer in das Spitzenspiel gehen, haben sie zwei Umständen zu verdanken. Zum einen erkämpften sie sich im schweren Auswärtsspiel beim Dritten SG Flensburg-Handewitt mit Mühe und auch etwas Glück noch ein Unentschieden (31:31), zum anderen ließ Magdeburg beim 27:28 bei Hannover-Burgdorf unerwartet zwei Punkte liegen. Es war die erste Niederlage des Clubs aus Sachsen-Anhalt nach 30 unbesiegten Pflichtspielen hintereinander. „Es fühlt sich ganz schrecklich an“, sagte SCM-Trainer Wiegert, „weil wir das Verlieren nicht mehr gewohnt sind“. Davor hatten er und seine Spieler zuletzt am 21. September 2023 in der Königsklasse beim FC Barcelona (20:32) als Verlierer das Parkett verlassen. Seitdem gab es bis zum Hannover-Spiel nur noch Siege oder Unentschieden – und bei Wiegert wuchs der Bart.
Aus Aberglauben hatte er sich nicht mehr rasiert, die gerissene Serie erlaubt ihm nun den Griff zum Rasierer. „Es ist vielleicht das einzige Positive, dass diese Geschichte nun Geschichte ist“, sagte der Ex-Spieler unmittelbar nach der Niederlage. Doch etwas später war gar nicht mal mehr sicher, ob der XXL-Bart wirklich abkommt. „Da habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, weil das alles andere als eingeplant und einkalkuliert war“, sagte Wiegert: „Das wird man sehen.“ Der Rauschebart mit den grauen Härchen war immerhin zu seinem Markenzeichen geworden und er hat über fünf Monate womöglich wirklich Glück gebracht: „Ich habe es genossen, so lange zu gewinnen. Ich hätte das gerne noch weiter mit den Jungs getrieben, weil ich das Gefühl hatte, dass sie das in sich haben, dass es kein Zufallsprodukt war.“
Der 42-Jährige versuchte in den Tagen danach, die Mannschaft aufzurichten und ihr das etwas abhandengekommene Selbstvertrauen zurückzugeben. Jeder habe gewusst, „dass dieser Moment kommen würde“, sagte er. Dass es aber ausgerechnet bei einem Spiel passieren würde, das man lange Zeit im Griff hatte und niemals hätte verlieren dürfen, schmerzt. „Es tut verdammt weh“, gab Linksaußen Matthias Musche zu. Wiegert ist nun also vor allem als Psychologe gefordert, denn in dem Duell gegen die Füchse wird es vor allem auf die Mentalität ankommen. Große Qualitäts-Unterschiede in den Kadern gibt es nicht. „Ich hoffe, wir kriegen es schnell aus den Köpfen“, sagte Wiegert, der zugab: „Ich habe aber die Spieler in der Kabine gesehen und glaube, es wird Zeit benötigen.“ Musche zeigte sich jedoch schon wieder angriffslustig: „Jetzt versuchen wir, eine neue Serie zu starten.“
Ein Sieg gegen die Berliner ist den Magdeburgern durchaus zuzutrauen, zumal sie daheim in der GETEC-Halle vor 7800 Fans antreten. Auch die Füchse sehen den SCM nach wie vor in der Favoritenrolle. „Der SCM spielt eine überragende Saison“, sagte Geschäftsführer Bob Hanning. Doch er betonte auch: „Ich sehe uns aber nicht chancenlos.“ Der Vorjahresdritte hat bislang eindrucksvoll bewiesen, dass er in dieser Saison noch mal einen Schritt nach vorne gemacht hat. Das Team um den dänischen Ausnahmespieler Mathias Gidsel blieb größtenteils beisammen, spielt nun aber konstanter. Ausrutscher gegen kleinere Teams, die den Hauptstadtclub in der Vorsaison die Titelchancen gekostet hatten, gibt es nun deutlich seltener. Auch der Zusammenhalt im Team gilt als ausgezeichnet, Verletzungssorgen in der Hinrunde durch langfristige Ausfälle zum Beispiel der Führungsspieler Paul Drux und Fabian Wieder wurden erfolgreich kompensiert. Zum einen erhielten Top-Talente wie die U21-Weltmeister Nils Lichtlein und Max Beneke mehr Spielzeit und Verantwortung. Zum anderen nahmen die Topstars Gidsel, Mijajlo Marsenic und Lasse Andersson eine enorme Belastung zum Wohle der Mannschaft auf. „Ihre Energie und Mentalität ist ansteckend“, lobte Trainer Jaron Siewert.
„Der beste Job der Welt“
Vor allem Gidsel hat in dieser Saison noch mal einen Sprung nach vorne gemacht, was bei seinem hohen Leistungslevel bemerkenswert ist. Der 25 Jahre alte Däne kämpft vor allem gegen den Eisenacher Manuel Zehnder um die Torjäger-Krone der Bundesliga, er wäre nach Konrad Wilczynski (2008) und Hans Lindberg (2022) erst der dritte Berliner, der sie gewinnen könnte. „Das ist aber kein persönliches Ziel für mich“, betonte der Weltstar: „Ich will mit den Füchsen Titel gewinnen und sonst nichts.“ Und das nicht irgendwie, sondern mit Spaß. „Meine Mitspieler sagen manchmal, ich lache zu viel während eines Spiels und dass ich fokussierter sein müsste. Aber so bin ich einfach“, sagte der zweimalige Weltmeister: „Ich lächele gerne, denn mir macht es einfach Spaß, auf dem Feld zu stehen und um Punkte zu kämpfen, die dann vielleicht auch die deutsche Meisterschaft entscheiden.“ Die Verbissenheit im Profisport geht ihm komplett ab, dennoch gibt er alles auf dem Parkett – aber eben auf seine Weise.
„Für mich geht es nicht darum, der beste Spieler der Welt zu sein. Ich möchte der glücklichste Spieler der Welt sein.“ Das Parkett sei für ihn nicht nur das Spielfeld, sondern vielmehr „ein Spielplatz“, berichtete der Rückraumspieler: „Es ist der beste Job der Welt, jeden Tag aufzuwachen, Handball zu spielen und Spaß zu haben.“ Natürlich wolle er in jedem Spiel gewinnen, doch sein Hauptantrieb sei etwas anderes: „Ich habe immer gesagt, dass ich für die Erfahrung spiele.“ Eine ausverkaufte Halle, ein Topspiel zwischen dem Ersten und Zweiten, unangenehme Gegenspieler – das sind Dinge, die aus Mathias Gidsel die beste Leistung herauskitzeln. Das Duell mit dem SC Magdeburg ist also ganz nach seinem Geschmack. In der Bundesliga gibt es einige solcher Topspiele, auch deswegen sei der Wechsel nach Deutschland im Sommer 2022 die richtige Entscheidung gewesen, sagte der damals von zahlreichen europäischen Clubs umworbene Gidsel: „Auch wenn viele sagen, dass der Druck und die Belastung in Deutschland sehr hoch sind. Für mich war es einfach die richtige Wahl.“