In Brüssel pfeifen es die Spatzen vom Dach: Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte soll neuer Nato-Generalsekretär werden. Kann das noch schiefgehen?
Für die führenden Nato-Staaten steht es fest: Der neue Chef im Brüsseler Nato-Hauptquartier soll Mark Rutte sein. Das passt: Der 57-jährige Bürgerlich-Liberale ist gerade dabei, sein Amt als niederländischer Regierungschef abzugeben. Mit 14 Jahren Amtszeit hat er das Königreich an der Nordsee länger gelenkt als jemals jemand vor ihm. Seine diplomatische Geschmeidigkeit hat er mit verschiedensten Koalitionspartnern bewiesen.
Würde alles nach Plan funktionieren, könnte Rutte spätestens im Herbst den Norweger Jens Stoltenberg ablösen. Mindestens zwanzig der 31 Nato-Mitglieds-Regierungen haben sich für den Kopf der „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ entschieden, heißt es aus gutinformierten Kreisen. Darunter sind die dominierenden Schwergewichte wie die USA unter Präsident Joe Biden sowie Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Kann da noch etwas schiefgehen?
Rutte ist in der gesamten Allianz hoch angesehen, heißt es. Er verfügt über breite Verteidigungs- und Sicherheit-Qualifikationen. Seine Expertise könnte dafür sorgen, dass die Allianz stark und bereit zur Verteidigung und Abschreckung bleibt. Das gilt vor allem gegenüber Russland. Da kennt sich Rutte aus, hat er doch vor zehn Jahren den Streit mit Putin gemanagt, nachdem offensichtlich russische Kräfte den Malaysia-Airlines-Flug MH17 über der besetzten Ost-Ukraine abgeschossen hatten. Der Linienflug war in Amsterdam gestartet, alle 298 Insassen kamen ums Leben.
Entscheidung im Konsens nötig
Das alles passt glänzend zum Wunsch des britischen Premierministers Rishi Sunak: „Das Vereinigte Königreich wünscht sich einen Kandidaten, der die Nato stark halten wird.“ Denn das wird der Nordatlantik-Pakt in den kommenden Jahren brauchen. Kaum ein Militärexperte, der in den nächsten Jahren nicht enorme Herausforderungen auf den Westen zukommen sieht: Außer einem immer aggressiveren Russland seien nur die Stichworte China/Taiwan, Iran und Naher Osten sowie regionale Konflikte mit Ausweitungspotenzial wie im Südsudan oder anderen Teilen Afrikas genannt.
Doch wie sicher sitzt Rutte im Kandidatensattel? Die bereits erreichte Zweidrittelmehrheit reicht nämlich nicht aus, da die Nato die Führungsfrage nur im Konsens entscheidet. Auch das Machtwort des US-Präsidenten als weitaus größter Beitragszahler reicht nicht aus, wenn sich auch nur ein Land gegen Rutte stellen sollte. Und zehn haben sich noch nicht erklärt.
Zu den Zögerern gehören das in der EU für Dauerquerelen sorgende Ungarn und die nicht minder fordernde Türkei, die nach Militärstärke der zweitgrößte Nato-Partner ist. Die nationalkonservative Regierung in Budapest ist Rutte nicht wohlgesonnen, weil er vehement EU-Sanktionen gegen das Ausscheren von Regierungschef Viktor Orbán aus dem Wertekanon des Staatenverbunds befürwortet hat. Und in Ankara möchte Präsident Recep Tayyip Erdoğan sicherstellen, dass ein künftiger Bündnis-Generalsekretär im territorialen Dauerstreit um Grenzen mit den Nato-Partnern Zypern und Griechenland nicht einseitig agiert. Könnte es also zu Blockaden kommen, falls Rutte nicht spurt?
Auch im Baltikum hat man besondere Erwartungen. Estland, Lettland und Litauen wünschen sich vom künftigen Generalsekretär klare Unterstützung für die angestrebte Nato-Mitgliedschaft der russisch bedrängten Ukraine. Das ist kein selbstloses Ansinnen. Denn für die drei baltischen Ex-Sowjetrepubliken ist die Allianz eine Lebensversicherung gegen aggressive Ansprüche des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ein Erfolg der Ukraine gegen den Kreml würde auch für sie hohen Wert haben.
Am liebsten hätten die Baltennationen eine der ihren im Chefsessel gesehen. Lange wurde die im Ausland hochbeliebte estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas als erste Frau an der Bündnisspitze gesehen. Doch die liberale Politikerin scheint für die Zeit nach der Europawahl am 9. Juni auf dem Sprung zur künftigen EU-Außenbeauftragten zu sein. Außerdem sollen sie manche Nato-Mitglieder als zu kämpferisch empfinden. Das gilt auch für einen zunächst kolportierten anderen Namen aus dem Baltikum: Lettlands Ex-Premier und heutiger Außenminister Krišjānis Kariņš.
Die ebenfalls lange genannte Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen steht nicht bereit, da sie erneut EU-Kommissionspräsidentin werden möchte. Und die dritte als Kandidatin ins Spiel gebrachte Frau, Dänemarks sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen, ist als neue Präsidentin des Europäischen Rates im Gespräch, somit als einflussreiche Sprecherin der 27 EU-Regierungen.
Also doch freie Bahn für Rutte? Noch nicht ganz. Still und heimlich hat sich nämlich noch jemand ins Gespräch gebracht: Klaus Iohannis, der deutschstämmige Präsident Rumäniens. Er soll die Rückendeckung mehrerer osteuropäischer Länder haben, die das Gefühl haben, in dem transatlantischen Bündnis nicht nur geografisch am Rand zu stehen.
Die wohl ernstgemeinte Bewerbung stößt im eigenen Land auf Skepsis. So schrieb die Zeitung „Republica“ (Bukarest): „Iohannis sorgt für einen Riss in der Nato – zu einem Zeitpunkt, da das Bündnis beweisen muss, dass es intakt ist.“ Und „Adevărul“-Kolumnist Stefan Vlaston meinte: „Hoffen wir, dass es Iohannis nicht zuallererst um seine Person geht.“
Schwierige Lage im 75. Gründungsjahr
Es scheint also, dass Rutte das Rennen für sich entscheiden könnte. Vielen gilt er als Idealbesetzung. Der einflussreiche niederländische Geschäftsmann und einstige Politiker Ton Elias sagt: „Rutte kann eine Botschaft überbringen, die knallhart ist, aber mit einem samtenen Lächeln.“ Vielleicht wäre er smarter als der effektive, aber etwas steife Amtsinhaber Jens Stoltenberg. Der wollte nach zehn Jahren Amtszeit eigentlich schon längst abtreten. Doch seinen Plan, den stressfreieren Job als Präsident der norwegischen Zentralbank Norges Bank anzutreten, hatte der russische Einmarsch in die Ukraine 2022 vereitelt. Die Nato brauchte Kontinuität.
Stoltenberg hat die Militärallianz trotz Auslaufens seiner Amtszeit erfolgreich durch schwieriges Fahrwasser geleitet. In das war er schon während der Regierung von Donald Trump geraten, dem gegenüber er bei allen Differenzen Loyalität zeigen musste. Sollte der populistische Republikaner erneut ins Weiße Haus einziehen, könnte es vielleicht nur Rutte sein, der bei ihm Gehör findet. „Ich mag den Typen!“, sagte Trump schon im Sommer 2018 über den Niederländer. Seitdem gilt Rutte als „Trump-Flüsterer“.
Sollte Rutte von den Staats- und Regierungschefs tatsächlich ins Nato-Hauptquartier nach Brüssel berufen werden, müsste er jedenfalls die wohl schwersten Herausforderungen seit Gründung des Nordatlantikpaktes vor genau 75 Jahren schultern. Er müsste den sich zuspitzenden Konflikt mit Russland managen – und das bei womöglich nachlassender Unterstützung der USA für Europa, selbst wenn der künftige Präsident wieder Joe Biden heißen sollte. Das könnte das Kreieren eines europäischen Pfeilers der Nato erfordern.
Eines ist sicher: Rutte wird in dem Hochsicherheitsjob nicht mehr, wie hunderttausende seiner Landsleute, mit dem Fahrrad zur Arbeit radeln können. Selbst zu Audienzen bei König Willem-Alexander fährt Rutte mit dem Stahlesel vor. Als Vorgesetzter von fast sechs Millionen Soldatinnen und Soldaten sowie Reserveeinheiten und Paramilitärs wird Rutte – dessen Privatleben so gut wie unbekannt ist – sein „Fiets“ wohl für längere Zeit wegschließen müssen. Nach den offenen Niederlanden würde ihn eine Welt voller Bodyguards, abgeschirmter Räume und bombensicherer Fahrzeuge erwarten.