Über die Inflation eines Wortes mit außergewöhnlicher Bedeutung
Was ist bloß mit der Liebe geschehen? Vor allem in Konversationen zwischen jüngeren Menschen ploppt sie pausenlos auf – ob auf Whatsapp, am Telefon oder beim Smalltalk im „echten“ Leben. Sie lieben die neuen Butterkekse einer hippen Sweets-Brand, weil sie so samt auf der Zunge zergehen, das technisch aufgerüstete iPhone, denn die Bildqualität ist „extrem nice“, oder eine Horrorserie auf Netflix, wegen der abgrundtief düsteren Gesichter der Untoten. Alles Gründe, Liebe zu verteilen – wie vom Fließband. Leicht fragt man sich hierbei, wo denn „Liebe“ anfängt.
Die Werbeindustrie suggeriert uns, es sei angemessen, Produkte und Dienstleistungen zu lieben. Wer Prospekte durchblättert, an Plakatwänden vorbeiläuft oder durch Social Media scrollt, merkt das rasch. Doch auch vor Ort ist man nicht sicher vor amourösen Vorstößen. Bei Edeka flirren offenkundig Liebesschwüre durch die Filiale. Jeder darf sich, den Einkaufswagen durch die Gänge schlängelnd, schockverknallen – von der Käsetheke über die Gefriertruhe bis zur Kasse.
„Wir lieben Lebensmittel“, lautet die Devise der Supermarktkette. Linseneintopf, fettreduzierten Frischkäse oder auch Erdnussflips. Eben alles, was vertilgt werden kann. Womöglich erwischt man beim Shoppen mit ein wenig Glück einen Praktikanten, der vor einer Aubergine in die Knie geht und ihr einen Heiratsantrag macht, eine Kassiererin, die einem geräucherten Kabeljau einen Ring ansteckt, oder den Marktleiter, der eine Mon-Chéri-Praline abknutscht, weil sie die Scheidung zurückgezogen hat. Artikeln wie Alufolie, Schuppenshampoo oder Klopapier wird die Liebe laut Slogan verwehrt – denn das sind keine Lebensmittel. Vielleicht „schätzt“ man sie wenigstens oder hat sie „recht gern“, wäre doch traurig sonst.
McDonalds spricht aus der Sicht des Konsumenten: „Ich liebe es“, lautet der entsprechende Claim. Was für ein Menschenbild muss die Marketingabteilung haben, wenn sie davon ausgeht, dass Kunden emotionale Zuflucht in braungebrutzeltem Hack mit gedünsteten Zwiebeln, Gürkchen, Senf und Ketchup suchen oder eine tiefe seelische Zuneigung zu Chicken McNuggets oder McFlurry verspüren? Okay, mit Karamell-Topping schmeckt das Eis schon ziemlich dufte, aber lieben?
Heitere Zeilen mit ernstem Hintergrund: Fliegt uns die Liebe in unzähligen beliebigen Kontexten und Situationen um die Ohren, schleift sich ihr Sinngehalt zusehends ab. Sie teilt dieses Schicksal mit anderen bedeutungsvollen Begriffen wie „Mission“ oder „Katastrophe“, die häufig unüberlegt eingesetzt werden. Wenn ein Bundesligastürmer seine Torausbeute in der Rückrunde verdoppeln will, kann er das gerne als „Mission“ bezeichnen, „Ziel“ würde es allerdings besser treffen; und sollte er aufgrund einer Roten Karte wegen Schiribeleidigung den Rückrundenstart verpassen, ist das allenfalls schade – und natürlich saudumm –, aber keine „Katastrophe“.
Zurück zum eigentlichen Thema: Die Liebe ist groß. Sie zählt zu den gewaltigsten Antriebskräften des Menschen. Sie übersteht Höhen und Tiefen, berufliche Miseren, zerstörerische Krankheiten, sonst ist es keine: Liebe. Kaum ein Begriff ist derart mit symbolischer Energie und metaphysischen Assoziationen aufgeladen. Wenn man Kekse liebt, die Burger bei McDonalds und noch viele weitere alltägliche Dinge, wenn sozusagen alles „Liebe“ sein kann, wie soll sich der Partner oder wie sollen sich andere Menschen, die man wirklich liebt, und denen man dies vielleicht erst nach Jahren sagt, dann noch besonders vorkommen?
Besinnen wir uns. Wir lieben die Liebe, auch wenn das wie der Titel eines schmalzigen Schlagers klingt. Schützen wir sie vor rhetorischer Ausbeutung. Geben wir ihr ihre wundervolle, herzerbebende Bedeutung zurück – indem wir sie sorgsamer und weniger inflationär verwenden, dafür ihre entspannteren Kollegen „mögen“, „schätzen“ oder „gernhaben“ von der Ersatzbank in den Strafraum des Sprachgebrauchs schicken.