In Nordrhein-Westfalen wurden die in Europa fast ausgestorbenen Wisente wieder angesiedelt. Nachdem sie erst bejubelt wurden, wollte bald keiner mehr für sie verantwortlich sein. Die Sache endete vor Gericht. Und jetzt?
Waldbauer Georg Feldmann-Schütte ist sauer. „Alles angefressen“, sagt der 62-Jährige, während er mit Fleecejacke und Gummistiefeln über gefrorene Blätter stapft. Er bleibt vor einer Buche stehen, der ein Stück Rinde fehlt: „Da liegt der Holzkörper frei und fängt an zu schimmeln. Irgendwann kippt der Baum einfach um.“ Verkaufen könne er einen solchen Stamm nicht. „Den will doch kein Möbelhaus. Das eignet sich höchstens noch als Brennholz.“
Für Feldmann-Schütte ist klar, wer die Übeltäter sind: eine Wisent-Herde aus dem nahe gelegenen Bad Berleburg. Auf Futtersuche wandern die Tiere regelmäßig über den Rothaarkamm ins Sauerland, direkt in seinen Forst. „Wildschweine kann ich jagen, wenn sie Probleme machen“, schimpft Feldmann-Schütte. „Bei Wisenten geht das nicht, weil sie streng geschützt sind. Dabei geht es hier um meine Lebensgrundlage.“
Ein Problem der Provinz? Mitnichten. Denn die Wisente im Sauerland berühren nicht nur Waldbauern wie Georg Feldmann-Schütte, sondern streifen grundsätzliche Fragen. Zum Naturschutz. Zum Artensterben. Zum Zusammenleben zwischen Mensch und Tier. Es ist ein Konflikt, der es bis vor den Bundesgerichtshof geschafft hat – und bei dem momentan trotzdem keine Lösung in Sicht ist.
Rückblick ins Jahr 2003: Richard Prinz zu Sayn Wittgenstein-Berleburg, damals der größte Waldbesitzer Nordrhein-Westfalens, möchte eine gute Tat vollbringen. Der Adelige stellt seine Ländereien für ein groß angelegtes Auswilderungsprojekt zur Verfügung: die Rückkehr der Wisente.
Forstschäden nicht bedacht
Die zotteligen Tiere – bis zu drei Meter lang, groß wie ein Mensch – sind mit dem amerikanischen Bison verwandt und lebten Zehntausende von Jahren in Europa. Doch Mitte des vergangenen Jahrhunderts rottete sie der Mensch, genau wie den Wolf, fast komplett aus. Heute gibt es Schätzungen zufolge weltweit noch etwa 9.000 Wisente. Die meisten leben in Gefangenschaft.
Dabei spricht aus ökologischer Sicht viel für eine Wiederansiedlung. „Wisente haben ihren Platz in der Natur“, sagt Klaudia Witte, Biologie-Professorin an der Universität Siegen und Vorsitzende des Nabu-Kreisverbands Siegen-Wittgenstein. In Zeiten des Artensterbens könnten die Tiere einen wertvollen Beitrag zur Biodiversität leisten. „Sie verbreiten Samen von Pflanzen und ziehen Dungkäfer an, die wiederum wichtige Beute für Vögel und Fledermäuse sind. Sie schaffen Kleinlebensräume für Insekten, Reptilien und Pflanzen.“ Außerdem nutzten Vögel die Wisent-Haare zum Nestbau.
Auch in der Kleinstadt Bad Berleburg sind die Menschen Anfang der 2000er-Jahre begeistert. Eine zweite Chance für eine fast ausgestorbene Art – warum nicht? Ein eigener Trägerverein gründet sich, zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und Begleitstudien werden veröffentlicht. Am Rande einer Landstraße entsteht ein touristisches Schaugehege, in dem – zusätzlich zur wilden Herde – einige Tiere eingezäunt leben. Direkt daneben eine Gastwirtschaft, die „Wisent-Hütte“.
Politikerinnen und Politiker zeigen sich ebenfalls gern mit den Tieren: Der Bürgermeister von Bad Berleburg, Bernd Fuhrmann, übernimmt den Vorsitz des Trägervereins Wisent-Welt-Wittgenstein. Als die ersten Tiere 2010 in ihr Auswilderungsgehege kommen, erscheint der damalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) höchstpersönlich. Dass schon damals ein Bulle ausbricht, könnte man als schlechtes Omen deuten. Das Geld aber fließt weiter. Zwischen 2009 und 2023 stellt allein das Land NRW über drei Millionen Euro an Fördermitteln bereit, wie ein Sprecher des Umweltministeriums auf Nachfrage mitteilt.
So groß die Freude in Bad Berleburg auch ist – im benachbarten Sauerland überwiegt von Anfang an die Skepsis. „An die Forstschäden hatten wir damals noch gar nicht gedacht“, erinnert sich Waldbauer Feldmann-Schütte. Befreundete Landwirte hätten sich Sorgen wegen der Rinderseuche BSE gemacht.
Es kommt anders. Statt BSE zu verbreiten, verlassen die Wisente ihr 4.300 Hektar großes Areal und streunen in benachbarte Forstbestände. Ihr bevorzugtes Futter: Baumrinde. Allein Georg Feldmann-Schütte beziffert seine Schäden auf 60.000 Euro. Aus einem Ausgleichstopf habe er 25.000 Euro bekommen, auf dem Rest sei er sitzen geblieben.
Es folgen zahlreiche Gerichtsprozesse bis zur letzten Instanz: 2019 urteilt der Bundesgerichtshof, dass der Trägerverein „geeignete Maßnahmen“ treffen muss, um die Wisente zu bändigen. „Ob das ein Zaun ist oder ein Hirte, ist mir egal“, sagt Waldbauer Feldmann-Schütte. „Wir haben nichts gegen die Tiere“, betont er. „Aber es müssen sich die Verantwortlichen endlich kümmern.“
Genau darin aber liegt das Problem. Denn: Plötzlich will niemand mehr etwas von den riesigen Landsäugern wissen. Der Prinz, der die Sache einst ins Rollen brachte, ist 2017 verstorben. Der Landkreis hält sich für nicht zuständig, das NRW-Umweltministerium schreibt lapidar: „Bei dem Wisent-Projekt (…) handelt es sich um ein von einem privaten Verein initiiertes und getragenes Projekt.“
Mittlerweile eine herrenlose Herde
Doch eben dieser Verein existiert auch nicht mehr. Im Sommer 2023 stellt er einen Insolvenzantrag, weil er die Schadensersatzforderungen der Bauern nicht bezahlen könne. Aus Sicht des Vorstands ist die Herde nun „herrenlos“. Bad Berleburgs Bürgermeister Bernd Fuhrmann, der letzte Vorsitzende, will über all das heute nicht mehr sprechen. Mehrere Kontaktversuche blockt sein Pressesprecher ab.
Auch die Wittgenstein-Berleburg’sche Rentkammer, die Verwaltung des Adelshauses, schaltet auf stumm. Hat nicht der Prinz die Tiere überhaupt erst ins Land gebracht und müsste dementsprechend Verantwortung übernehmen? „Das war der alte Prinz“, antwortet ein Mitarbeiter. Ende des Telefonats.
Ist die Herde nun also wirklich herrenlos – oder gibt es jemanden, der für ihre Betreuung und eventuelle Waldschäden aufkommen muss? Alle Beteiligten, mit denen man in der Region spricht, sind sich immerhin in einer Sache einig: Niemand weiß es. Ein Runder Tisch, der im September 2023 einberufen wird, endet mit konkreten Vorschlägen: Die Herde solle mit Sendern ausgestattet und durch Ranger gelenkt werden, voraussichtliche Kosten: 450.000 Euro pro Jahr. Ob die Vorschläge je umgesetzt werden, ist offen.
Ist für den Wisent in einer dicht besiedelten Region wie Deutschland schlicht kein Platz? Die Biologie-Professorin Klaudia Witte widerspricht: „Selbstverständlich können und sollen die Tiere frei leben“, sagt die Naturschützerin. Dabei müsse man aber auch das Management mitdenken – so, wie es die ursprüngliche Machbarkeitsstudie vorgesehen habe. „Es ist möglich, die Tiere zu lenken“, sagt Witte. „Dafür müssen aber auch das Personal und die Technik da sein.“ Die Expertin tritt zudem für eine Begrenzung ein: nicht mehr als 25 Tiere pro Herde. „So war es von Anfang an geplant. Daher müssen Individuen an andere Projekte abgeben werden.“
Was aber direkt zur nächsten ungeklärten Frage führt: Wie viele Wisente leben momentan überhaupt in Nordrhein-Westfalen? 40? 50? Oder noch mehr? Wenn sich niemand zuständig fühlt, kann auch niemand zählen. Der Sprecher des Landkreises kennt keine konkrete Zahl, sagt aber: „Es ist klar, dass es zu viele Tiere sind.“
Ganz anders ist die Situation in unseren Nachbarländern. Dort zeigt sich, dass Auswilderungen durchaus erfolgreich sein können, wenn einige Voraussetzungen stimmen. Die Internationale Organisation über vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten (IUCN) hat hierzu einen 140-seitigen „European Bison Review“ zusammengetragen. Der Bericht listet auf, wo Wisente in Europa mit einem Management-System leben, also von offizieller Seite beobachtet und gelenkt werden. Auch staatliche Entschädigungen gegenüber Waldbauern gehören dazu.
„Diese Tiere gehören zu unserer heimischen Fauna“
In der EU gibt es laut dem Bericht nur wenige Länder, die diese Kriterien erfüllen, darunter Litauen, Polen, Rumänien und die Slowakei. In Deutschland hingegen bemängelt die Organisation „widersprüchliche Regelungen“ in Bezug auf Artenschutz und Jagdrecht. Auf Seite 100 heißt es: „Eine sehr geringe Akzeptanz für freilebende Wisente verhindert ihre Wiederansiedlung.“
2017 sorgt der Tod eines Wisents sogar für diplomatische Verstimmungen. Die Polizei im ostbrandenburgischen Lebus hatte ein aus Polen eingewandertes Tier „zum Schutz der Bevölkerung“ kurzerhand erschossen. Polnische Medien zeigen sich empört; der WWF übt scharfe Kritik.
Trotz aller Vorbehalte gibt es aber auch hierzulande Projekte, in denen Wisente zwar nicht komplett frei, aber zumindest in großflächigen Arealen leben. In Brandenburg wurden ab 2010 zahlreiche Wisente in der Döberitzer Heide ausgewildert; inzwischen umfasst die Herde rund 130 Tiere. Das 1.860 Hektar große Gebiet liegt auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz, auf dem auch zahlreiche Wildpferde und ein Wolfsrudel leben.
„Man braucht solche großen, unzerschnittenen Flächen, damit die Herden wandern können“, sagt Hannes Petrischak von der Heinz-Sielmann-Stiftung, der das Gelände gehört. „Bei uns gibt es keine Probleme“, versichert er – und das, obwohl sich der Berliner Autobahnring in der Nähe befindet. Das Erfolgsrezept? Ein doppelter Elektrozaun und ein 22 Kilometer langer Wanderweg rund um das Areal. Das schaffe Vertrauen.
Die Stiftung sei grundsätzlich bereit, Wisente auch aus NRW aufzunehmen, sagt Petrischak – vorausgesetzt, der Genpool stimme, damit es keine Inzucht gebe. „Leider betrachten wir in Deutschland alles immer nur unter wirtschaftlichen Aspekten“, findet Petrischak. „Dabei gehören diese Tiere zu unserer heimischen Fauna.“ Auch Wildschweine verursachten Waldschäden – und darüber schimpfe niemand.
In NRW gibt es nun immerhin eine Mini-Lösung: Der Landkreis übernimmt die Winterfütterung, wie der Pressesprecher bestätigt. Dadurch sollen die Wisente wieder auf das Gelände des Fürstenhauses gelockt werden. Und hoffentlich auch dort bleiben.
Georg Feldmann-Schütte will daran nicht so recht glauben. „Wenn im April wieder alles blüht, ist das Futter der Natur besser als jeder Trog“, fürchtet der Waldbauer. Seinen Frust über die fehlenden Zuständigkeiten hat er kürzlich bei einer Bauern-Demo rausgelassen. Das Plakat hängt noch immer am Traktor: „Wisent, Wolf und Ampel – alles nur Gehampel.“