Will Alfred Gislason weiter Bundestrainer der deutschen Handballer bleiben und diese auch bei der Heim-WM 2027 betreuen, muss er beim Qualifikationsturnier für die Sommerspiele in Paris liefern. Ein einfaches Unterfangen wird das nicht.
Der Teufel steckt bekanntlich im Detail – manchmal auch bei vermeintlich positiven Dingen. Mit der Überschrift „Neue Verträge für Bundestrainer“ teilte der Deutsche Handball-Bund in einer Presseerklärung mit, dass Frauen-Nationalcoach Markus Gaugisch bis 30. Juni 2026 und Männer-Auswahltrainer Alfred Gislason bis zum 28. Februar 2027 ihre Arbeitsverträge verlängert haben. Versteckt im sechsten Absatz befand sich aber die nicht unerhebliche Einschränkung für Gislason, die mit einem glasklaren Auftrag verbunden ist: „Voraussetzung für die Laufzeit ist eine erfolgreiche Qualifikation für die Olympischen Spiele. Sonst endet der Vertrag in 2024.“ Der Isländer muss beim Ausscheidungsturnier vom 14. bis 17. März in der ZAG Arena von Hannover also liefern, ansonsten ist seine von Höhen und Tiefen begleitete Amtszeit nach vier Jahren beendet. Die Süddeutsche Zeitung schrieb von einer „Kröte für Gislason“, die dieser aber bereit ist zu schlucken.
Gislason muss Kröte schlucken
„Ich freue mich sehr über das Vertrauen und die Möglichkeit, unsere Nationalmannschaft auf ihrem Weg bis 2027 begleiten zu können“, wurde der einstige Erfolgstrainer in der Handball-Bundesliga in der DHB-Mitteilung zitiert: „Das Team besitzt ein enormes Potenzial, um in den nächsten Turnieren extreme Fortschritte zu machen.“ Doch das ist Zukunftsmusik, die er womöglich gar nicht mehr anstimmen darf. Deswegen zählt für Gislason aktuell nur das Hier und Jetzt. „In den kommenden Tagen werden wir erst einmal alles einem erfolgreichen Olympia-Qualifikationsturnier unterordnen.“ Ansonsten ist für ihn Schluss – und der DHB hätte ein großes Problem. Die Sichtbarkeit bei einem olympischen Turnier ist für den Verband enorm wichtig, sportlich wie finanziell. Deswegen haben das Qualifikationsturnier der Männer und das der Frauen Mitte April in Neu-Ulm höchste Bedeutung. „Wenn wir es vor allem sportlich sehen, wäre es natürlich wichtig als Beweis, dass unsere Frauen und Männer mit ihren Nationalmannschaften zu den Top-Nationen im Handball gehören“, sagte DHB-Präsident Andreas Michelmann. Zudem seien Olympische Spiele für jede Athletin und jeden Athleten „ein herausragendes, wenn nicht gar einmaliges Erlebnis“.
Gislason hat Sommerspiele bereits erlebt, 2021 führte er die DHB-Auswahl in Tokio bis ins Viertelfinale. Das Aus kam gegen Ägypten, die deutsche Mannschaft war nahezu chancenlos und weit weg von einer Medaillenform. Schon damals kamen Zweifel auf, ob Gislason der richtige Trainer für dieses Team sei. Bei der vorangegangenen WM in Ägypten war Deutschland bereits nach der Hauptrunde ausgeschieden. Doch der Mann, der beim THW Kiel einst mit sechs Meistertiteln, sechs Pokalsiegen und zwei Champions-League-Triumphen eine Ära geprägt hatte, genoss und genießt verbandsintern hohes Ansehen. Seine Fachkenntnis ist unbestritten, seine Leidenschaft für den Job ebenfalls. Trotz widriger Umstände hat Gislason zudem einen Umbruch im Team durchgeführt, was ein „steiniger Weg“ gewesen sei, wie er selbst nicht müde wird zu betonen. Der Kader ist nun deutlich jünger, entwicklungsfähiger – und damit gerüstet für die Zukunft. Doch all das ist nicht viel wert, sollte Gislason das Paris-Ticket verpassen. Und die Gefahr besteht durchaus.
Das Qualifikations-Turnier in Hannover ist alles andere als ein Selbstläufer für die deutschen Handballer. Nach dem Auftakt gegen Algerien stehen zwei Duelle an, die auf dem Papier noch schwieriger sind: Am Samstag wartet Kroatien, das Deutschland bei der jüngsten Heim-EM im Halbfinale klar mit 30:24 besiegt hatte. In Hannover gibt es ein Wiedersehen mit Ex-Bundestrainer Dagur Sigurdsson, der nach der EM als Nationalcoach Kroatiens übernommen hat. Der Isländer hatte das deutsche Team 2016 zum Europameister-Titel und zu Olympia-Bronze in Rio de Janeiro geführt und hierzulande einen kleinen Handball-Boom ausgelöst. Am Sonntag kommt es zum Abschluss zum Duell mit Österreich. Der Nachbar hatte dem DHB-Team bei der EM immerhin ein Unentschieden abgetrotzt. „Mit Algerien, Kroatien und Österreich haben wir harte Aufgaben, aber die gehen wir selbstbewusst an“, sagte Gislason: „Ich bin absolut davon überzeugt, dass wir uns auf den Weg nach Paris machen werden.“ Für den Olympiastart muss beim Vier-Nationen-Turnier der erste oder zweite Platz her – ansonsten schauen die deutschen Handballer im August nur am Fernseher zu.
Wenig überraschend geht Gislason die Mission mit einem 18-köpfigen Kader an, in dem größtenteils die EM-Spieler vertreten sind. Sie hatten beim Heimturnier den vierten Platz belegt und ihr Potenzial in einigen Spielen zumindest angedeutet. Für eine direkte Olympia-Qualifikation reichte es aber nicht, deswegen müssen sie nun den Umweg über die Quali gehen. Als Anführer sind wieder Kapitän Johannes Golla, Torwart Andreas Wolff und Spielmacher Juri Knorr vorgesehen. Auch von Rückkehrer Marian Michalczik erwarten sich die Verantwortlichen einen Qualitätszuwachs. Der Hannoveraner sei „nach seinem Ausfall in der EM-Vorbereitung super in die Rückrunde der Bundesliga gestartet“, befand DHB-Sportvorstand Axel Kromer.
Bucht Deutschland das Paris-Ticket, ist der Fahrplan für Gislason klar. Sein Vertrag erreicht die finale Gültigkeit bis zum Abschluss der Heim-Weltmeisterschaft 2027, wo er mit dem deutschen Team den WM-Titel holen und im Alter von dann 67 Jahren als Weltmeister-Trainer abtreten will. Den Schwung dafür sollen die WM 2025, für die sich die DHB-Auswahl bereits qualifiziert hat, und die EM 2026 geben. Zwei große Turniere, bei denen Knorr und Co. weiterreifen und hochtalentierte Spieler wie U21-Weltmeister wie Nils Lichtlein ins Team integriert werden sollen.
Bennet Wiegert in den Startlöchern?
Doch was passiert, wenn am Ende des Qualifikationsturniers Paris verpasst wird? Dann ist Gislason seinen Job los, ein neuer Bundestrainer müsste her. Zuletzt wurde schon reichlich über Nachfolge-Kandidaten spekuliert, weil sich der DHB und Gislason nach der EM viel Zeit mit der Vertragsverlängerung gelassen hatten. Das gab Raum für Gerüchte. Florian Kehrmann und Maik Machulla wurden ebenso ins Spiel gebracht wie Magdeburgs Erfolgstrainer Bennet Wiegert. „Ich bin jetzt kein Verantwortlicher vom DHB“, sagte Handball-Ikone Stefan Kretzschmar: „Aber wenn ich einer wäre, dann würde ich anders rangehen an die Sache. Ich würde mir von Alfred seine Vision 2027 erzählen lassen. Und dann würde ich mich mit Benno treffen.“ Ob sich die Verbands-Verantwortlichen tatsächlich mit anderen Kandidaten ernsthaft beschäftigt haben, ist nicht überliefert. Laut Kretzschmar wäre es aber ein Kardinalfehler gewesen, wenn nicht. Er zum Beispiel hätte Wiegert gefragt: „Könntest Du Dir das überhaupt vorstellen? Und wie ist Deine Vision? Und dann würde ich mir beide Sachen anhören und danach würde ich entscheiden.“ Volle Zustimmung zu Kretzschmars Plan kam von Ex-Weltmeister Michael Kraus: „Danke! Das sage ich doch schon seit zwei oder drei Jahren!“
Auf solch Gerede gibt Gislason nicht viel. Er will sich nicht verbiegen lassen – jetzt erst recht nicht. Auch die Kritik an seinen Nominierungen, die teilweise von Spielern und Club-Verantwortlichen harsch bemängelt werden, will er sich nicht so sehr einlassen. Gislason bleibt seiner Linie treu, denn von der ist er nach wie vor überzeugt. Geradlinig, konsequent und mit viel Knowhow – so will er weiter auftreten. „Ich gehe ehrlich und klar mit meinen Spielern um“, sagte der 64-Jährige. Dass er gelegentlich knorrig, ja mitunter sogar schroff rüberkommt, weiß er. Doch das sei eine eher oberflächliche Betrachtung. „Jeder darf bei mir seine Meinung sagen. Und ich gebe auch eigene Fehler zu oder nehme Niederlagen auf meine Kappe“, sagte der Bundestrainer. Seine Autorität habe auf dem Parkett natürliche Grenzen: „Ich versuche, meinen Spielern alles zu erklären und beizubringen, was ich kann. In einem Spiel habe ich drei Time-outs, da kann man nicht viel erzählen, deswegen brauche ich Spieler, die selbstständig denken können.“
Gislason gibt sich kompromissbereit
Er sei zudem bei der Nationalmannschaft deutlich kompromissbereiter als zu Zeiten in Kiel, Magdeburg oder Gummersbach. Es gebe „einen Unterschied zwischen Bundestrainer und Vereinstrainer: Wenn ich hier überdrehe, dann kommen die Spieler nicht mehr“, sagte Gislason und ergänzte scherzhaft: „Im Verein können sie nicht weg.“ Er sei sich aber sicher, dass seine direkte Art auch bei den jüngeren Spielern „ganz gut“ ankomme, auch wenn er zugibt: „Vielleicht gehe ich ein bisschen anders mit den Spielern um, das hat schon mit dem Alter zu tun.“ In der Kabine könne es aber schon mal knallen. Seine Ansprachen zur Mannschaft seien „viel härter“ als seine Aussagen in TV-Interviews nach dem Spiel, „meine Spieler in Magdeburg und Kiel haben das die ‚Beleidigungstour‘ genannt“.
Doch wie auch immer es für Gislason auf dem Bundestrainer-Posten ausgeht: Er weiß, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt als Sieg und Niederlage im Sport. Als seine Frau 2021 die Diagnose „Gehirntumor“ erhielt, wollte er eigentlich sofort zurücktreten. Doch seine Frau überredete ihn zum Weitermachen. „Kara war auch wirklich sauer auf mich, als ich sagte, ich höre auf. Sie hat gewusst, dass der Handball für mich wichtig ist, wenn sie nicht mehr lebt, dass ich weitermache“, erzählte der in Deutschland lebende Isländer. Nur kurze Zeit später starb sie, „es war schockierend, wie schnell alles ging“, sagte Gislason. „Das war und ist immer noch unglaublich hart.“ Sein Job schenkt ihm Abwechslung, auch deshalb kämpft Alfred Gislason hart um seine Zukunft als Bundestrainer.