Die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten sind gekürt, die Wahlprogramme formuliert. Der Countdown für die Wahl in drei Monaten läuft. Es wird die erste Europawahl unter dem Schatten eines Krieges auf europäischem Boden.
Jetzt ist es offiziell: Ursula von der Leyen will eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin und stellt sich diesmal dem Votum der Wählerinnen und Wähler.
Das ist gar nicht so selbstverständlich im komplexen Geflecht europäischer Politik, wie es auf den ersten Blick scheint. Bekanntlich stand sie vor fünf Jahren gar nicht zur Wahl – und wurde schließlich doch die oberste Politikerin Europas.
Sicherheit und Wohlstand
Diesmal soll das anders laufen. Ursula von der Leyen ist offizielle Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP), also der Parteienfamilie, zu der christlich-demokratische konservative Parteien der EU-Mitgliedsländer gehören. Gewählt wurde von der Leyen auf einem Parteikongress in Bukarest. 400 Ja- gegen 89 Nein-Stimmen für die amtierende Kommissionspräsidentin sieht nach einem vernünftigen Ergebnis aus. Aber wie so oft zeigt der zweite Blick, dass dahinter noch einige Fragezeichen stehen.
Das fängt an mit der Frage nach dem Verhältnis der EVP zu von der Leyen – und umgekehrt. Bei der Wahl der Spitzenkandidatin war ein beträchtlicher Teil der rund 800 Delegierten schon abgereist. Das relativiert die Ja-Stimmen bei der Kandidatinnenkür.
Die zweite Frage ist inhaltlich: Die EVP hat ein Programm beschlossen, das in etlichen Punkten gegen das Herzstück der Politik von der Leyens gerichtet ist, nämlich gegen den Green Deal.
Hinter den großen Punkten, die von der Leyen in ihrer Rede in den Mittelpunkt gestellt hat, kann sich die EVP – und nicht nur die – durchaus versammeln: „Das Signal von Bukarest heute ist, dass die EVP für Europa steht, für ein starkes, sicheres, friedliches, wohlhabendes, demokratisches und geeintes Europa“.
Wenn es dann aber ans Konkrete in den einzelnen Politikfeldern geht, zeigt die EVP in ihrem Programm eine deutlich konservativere Handschrift, als es die Politik der Kommission unter von der Leyen war. Am deutlichsten wird das eben in dem großen ehrgeizigen Green-Deal-Projekt mit dem Ziel, Europa bis zum Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent umzugestalten.
Die großen Bauernproteste in vielen europäischen Ländern haben offensichtlich ihre Wirkung getan, ebenso wie Widerstände aus der Wirtschaft. Im Grundtenor will die EVP wieder zurück zu ihren „Markenkernen“, zu denen Wettbewerbsfähigkeit mit wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen und Bürokratieabbau ebenso gehören wie eine verschärfte Asyl- und Migrationspolitik.
Deutlich größere Einigkeit zwischen EVP und Spitzenkandidatin besteht dagegen in Fragen der Sicherheitspolitik. Von der Leyen hatte erst wenige Tage vor dem Parteikongress eine Initiative der Kommission für eine gemeinsame europäische Rüstungsindustrie angekündigt.
Dass die EVP bei den Wahlen Anfang Juni ihren Status als stärkste europäische Kraft behalten wird, ist nach allen derzeitigen Umfragen ziemlich sicher zu erwarten. Demnach würde die EVP-Fraktion um die 170 Sitze im Europäischen Parlament erreichen können (derzeit 178). Das hängt allerdings auch davon ab, welche Parteien der künftigen Fraktionen angehören und mit wem die EVP zusammenarbeiten will oder würde.
Der EVP-Partei- und Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (VSU) formulierte als Grundpfeiler: „Pro Europa, pro Rechtsstaat, pro Ukraine“. Das sollen auch die Kriterien einer „Brandmauer“ sein, also Kriterien dafür, mit wem die EVP zusammenarbeiten kann – oder eben nicht. Das gilt dann auch für die Frage, wer Mitglied in der EVP-Fraktion im künftigen Europäischen Parlament werden dürfte. Bei einer europäischen Parteienlandschaft, die rechts der Mitte ziemlich weit aufgefächert ist, stellt sich die Frage, wie trennscharf diese Kriterien sind. Wie wäre es beispielsweise mit der als postfaschistisch eingestuften Fratelli d’Italia, der Partei von Giorgia Meloni, die als italienische Ministerpräsidentin in vielen Bereichen europäischer Politik einen überraschend gemäßigten Kurs fährt?
Für Ursula von der Leyen sind das nicht nur Fragen hinsichtlich ihrer angestrebten Wiederwahl, sondern vor allem darum, für welche Politik sie in einem künftigen EU-Parlament Mehrheiten bekommen könnte.
Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa (SPE) müssten nach letzten Umfragen ebenfalls mit leichten Verlusten rechnen, dürften sich aber als zweitstärkste Kraft behaupten und könnten die derzeitigen 140 Sitze im EP in etwa halten.
Dass auch die Sozialdemokraten und Sozialisten einen europäischen Spitzenkandidaten gekürt haben, fand weitaus weniger Aufmerksamkeit als die Kür von der Leyens. Das mag auch mit der Personalie selbst zusammenhängen. Nicolas Schmit ist nun mal der breiten Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt. Dabei beackert der Luxemburger Politiker auf europäischer Ebene ein Feld, das einen Großteil der Menschen unmittelbar betrifft. Nicolas Schmit ist EU-Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte, hat sich als Fachpolitiker große Anerkennung erworben und gilt als ausgewiesener Kenner des Brüsseler Politikbetriebs.
Soziales und Klimaschutz
Ein Hauptziel im Wahlkampf ist für Schmit die Verteidigung europäischer Werte gegen einen Rechtsruck in der EU. Parteien wie die deutsche AfD, der französische Rassemblement National mit Marine Le Pen oder eben die italienische Fratelli D’Italia sind für ihn „Gift“ für die Demokratie, wie er bei seiner Wahl in Rom betonte. „Die beste Antwort auf die extreme Rechte ist unsere Vision und unser Projekt für Europa, damit jeder Bürger und jedes Kind ein besseres Leben haben kann.“ Dazu gehörten Klimaschutz genauso wie ein soziales Europa. „Wir werden für einen Green Deal mit rotem Herzen kämpfen“.
Die Grünen haben sich bereits früh auf eine Doppel-Spitzenkandidatur verständigt: Terry Reintke aus Deutschland und Bas Eickhout aus den Niederlanden sollen verhindern, dass die Grünen nach ihrem Aufschwung vor fünf Jahren jetzt wieder zurückfallen, was ihnen laut Umfragen drohen kann.
Bei der letzten Wahl vor fünf Jahren waren die wichtigsten Themen für die Wahlentscheidungen: Klima und Umwelt (48 Prozent), soziale Sicherung (43 Prozent), Frieden (35 Prozent) und Zuwanderung (25 Prozent). Da gab es noch keine Pandemie und keinen Krieg auf europäischem Boden. Die Themen sind also, wie der aufziehende Wahlkampf zeigt, geblieben, ihre Gewichtung hat sich allerdings signifikant verschoben, und das (globale) Umfeld, in dem diese Wahlen stattfinden, zeigt eine völlig veränderte Situation.