Die „100 Gramm Bar“ am Rosenthaler Platz in Mitte hat Anfang des Jahres eine Lounge eröffnet. In den neuen Räumlichkeiten gleich neben dem bekannten Party-Hot-Spot geht es etwas weniger trubelig zu. In chilliger Atmosphäre können dort klassische Drinks und experimentelle Cocktails genossen werden.
Manchmal muss man auf Geschwisterkinder etwas warten. Bei der „100 Gramm Bar“ hat es vier Jahre gedauert, bis kürzlich die „Lounge“ neben der angesagten Cocktailbar dazu kam. Sozusagen als kleine gastronomische Schwester. Auf 150 Quadratmetern wurde in den Räumlichkeiten des ehemaligen „Datscha“ die Barkultur ausgebaut. Die beiden Locations liegen Tür an Tür und sind durch einen gemeinsamen Keller miteinander verbunden. Dort befand sich ursprünglich auch die gemeinsame Küche der früheren Lokale „Datscha“ und „Gorki Park“.
Obwohl die neu bezogenen Räumlichkeiten noch jung und frisch sind, beschreibt Geschäftsführer Claudius-Roman Schmidt sie schon jetzt als „erwachsenere 100 Gramm Bar“. Schließlich hat die neue Nachtschwärmer-Oase unweit des Rosenthaler Platzes auch ein etwas anderes Konzept. „Sie ist experimenteller, loungiger, entspannter und ein bisschen weniger Party“, erklärt der Gastronomie-Unternehmer den Charakter des Neuzugangs.
Dazu muss man wissen, dass es in der Älteren der beiden ziemlich wuselig ist. Eine Stunde vor Mitternacht setzen wechselnde DJs den Beat „100 Gramm Bar“. Der Laden ist dann voll und laut, und die Cocktail-Bar wird zur Party-Location. Das zieht viel junges Publikum an. „Wir haben extrem viele Stammgäste, davon sind die Hälfte Berliner, die vor allem aus Mitte und Charlottenburg kommen“, sagt Geschäftsführer Claudius-Roman Schmidt in Hinblick auf beide Bars.
Maßeinheit für doppelten Wodka
Der Name ist übrigens auch eine Reminiszenz an ihre Vorgänger-Lokale „Datscha“ und „Gorki Park“, die jahrelang als bekannte Hot-Spots in Mitte galten und Liebhaber russischer Küche anzogen. In der Namenswahl „100 Gramm“ spiegelt sich auch die Geschichte Russlands wieder. Im ehemaligen Zarenreich wird der Wodka nicht in Millilitern, sondern in Gramm gemessen. So bestellt man dort einen doppelten Wodka üblicherweise in dem traditionellen Gläschen („Stopka“), das „Sto Gramm“ abmisst – also 100 Gramm. Diese Maßeinheit hat übrigens kein Geringer als Dimitri Mendelejew, der Chemiker und Entwickler des Periodensystems, entwickelt.
Das multikulturelle Team der beiden Bars hat sich Völkerverständigung auf die Fahnen geschrieben. „Wir teilen die Meinung, dass die Aggression eines Landes gegen ein anderes Land in unserer modernen Gesellschaft nicht akzeptabel ist“, heißt es in der Friedensmission auf der Unternehmens-Webseite. Man sei „kategorisch gegen jegliche Militäraktionen“, die mit menschlichen Opfern und Gewalt verbunden seien. Keine Nation sollte für die unrechtmäßigen Handlungen kurzsichtiger Politiker verantwortlich gemacht werden. „Nein zum Krieg“, heißt es abschließend mit drei Ausrufezeichen.
Der Geschäftsführer selbst ist zwar Berliner, hat aber ukrainisch-russische Wurzeln. Der ausgebildete Gastronom war erst im legendären „Borchardt“ tätig, zunächst als Kellner, später als Bar-Chef und noch zum Schluss als Bankett-Leiter. Dort hat Claudius-Roman Schmidt auch das berüchtigte „1. OG“ des „Borchardts“ bespielt, jene Beletage direkt über dem Restaurant, die als privater Salon für die Berliner Society bekannt wurde. Nach seiner Zeit dort war er zwei Jahre lang Restaurantleiter der Brasserie „3 Minutes sur Mer“ an der Torstraße. Mit der Eröffnung der „100 Gramm Bar“ im Herbst 2018 wurde er schließlich Geschäftsführer.
Milchfiltration feiert Revival
Seitdem ist die quirlige Bar ein beliebter Treffpunkt unweit des Rosenthaler Platzes, die auch die Corona-Zeit ohne größere Schrammen überlebt hat. „Wir haben diese Zeit so überstanden, wie man sie eben überstehen konnte“, sagt der Gastronom im Gespräch mit meinem Begleiter und mir. Mit vielen Gewinnspielen haben der Gastronom und sein Team die Gäste bei der Stange gehalten. „Wir haben versucht, so gut wie möglich am Stammpublikum dran zu bleiben“, sagt Claudius-Roman Schmidt. Der lange Atem hat sich gelohnt, die Gäste sind nach den Lockdowns wiedergekommen. Und so konnte Mitte Januar dieses Jahres auch die „100 Gramm Bar Lounge“ ihre Pforten öffnen.
Als ich in der Lounge ankomme, nehme ich in den samtigen, pinkfarbenen Sesseln im Hochparterre Platz. Chillige Sounds aus der Musikbox, stimmungsvolle Beleuchtung und separate Räume versprühen den Charme kleiner, lässig-eleganter Wohnzimmer. Ein Eyecatcher sind die grün verputzten Backsteinwände. Hier kann man abtauchen und sich vom Krisen- und Kriegsmodus der Welt da draußen abschotten. Zumindest für die Zeitspanne von ein, zwei oder vielleicht auch drei Drinks. Die Auswahl ist exquisit. „Viel Rauch, Dampf und fancy drinks“, hat unser Gastgeber schon bei der Eröffnung seiner Lounge angekündigt.
Zu Beginn des Abends nippe ich an einem von der griechischen Mythologie inspirierten „Zenith of Zephir“. Der raucht und dampft zwar nicht, entpuppt sich aber als sanfter Gaumen-Schmeichler. Ich bin angetan von der Mischung aus Oolong Gin und Limette. Die Fusion von blumig-süß und säuerlich ist perfekt ausbalanciert. Für diese fabelhafte Kreation wird der Drink durch eine Milchfett-Klärung verfeinert, die ihm eine klare Farbe verleiht. Erstaunlich – dieses Revival der Milchfiltration.
Bei meinen Erkundungen der Bars treffe ich immer öfter auf diese Rezeptur. Die amerikanische Hausfrau Mary Rockett hat schon vor mehr als 200 Jahren als erste das Prozedere schriftlich festgehalten. Den Recherchen des Cocktail-Historikers David Wondrich zufolge soll sie für den Punch Brandy, Wasser, Zitrone und Zucker gemischt und dann in kochende Milch gegeben haben. Das Resultat war ein kristallklares Mixgetränk. Die Milchfiltration dient nicht nur einer ansehnlichen Optik, sondern sorgt auch für längere Haltbarkeit.
Mein Begleiter entscheidet sich für einen „Pulp Fiction“. Die orangefarbene Mischung aus Gin, Aperol, Angostura und Grapefruit- sowie Zitronensaft lockt ein spontanes „geil“ aus ihm hervor. „Das ist ein kraftvoller Drink, mit viel Wacholder“, befindet er im zweiten Augenblick. Leider verträgt meine untrainierte Leber an einem einzigen Abend nicht so viel alkoholgetränkte Finessen, weshalb ich mir einen kleinen Break gönne.
Secret Dinner alle paar Wochen
Bei einem alkoholfreien, frisch-grünen „Non-Basil Smash“ und einer Raucherpause meines Begleiters lasse ich mir von den Vorlieben unseres Gastgebers erzählen. Dazu zählen der „Boston Sour“ und der „Negroni Sbalgliato“ aus Campari und Wermut. Noch während wir plaudern, begeistert sich ein schwedisch-australisches Frauen-Trio am Nachbartisch für die ausgefeilten Signature Drinks. Eine der Damen empfiehlt uns nachdrücklich den „Mayan Mistral“, an dem sie nippt – ein mit Kokosnuss infusionierter Tequila, verfeinert mit Limettensirup und Minzöl. Ich seufze. Die Wahl fällt schwer. Es finden sich so einige verheißungsvolle Kreationen auf der Karte wieder.
Dazu zählen Klassiker wie ein „Mezcal Negroni“ oder ein Cocktail namens „Avalon’s Jasmine Mist“. Dahinter verbirgt sich ein mit Jasminsirup und -tee infusionierter Calvados, aufgegossen mit Apfelwein. „Ein sehr zurückhaltender Drink mit leichten Apfel- und Jasminnoten, der trotzdem auf den Punkt kommt“, beschreibt ihn unser Gastgeber. Das klingt zart, blumig und sehr fancy. Trotzdem wünsche ich mir vor dem Ausklingen des Abends noch etwas Spektakuläres aus dem Chemielabor der Mixologen. So bestelle ich eine „Citrus Serenade“.
Dank einer voluminösen weißen Dampfwolke macht die Kreation schon rein optisch viel her. Doch letztlich überzeugt mich der Geschmack der Fusion aus Tequila, Tangerine, Bananensaft und etwas Säure – was für eine feine Ausgewogenheit aus fruchtig und säuerlich!
Es hilft alles nichts. Ich muss wohl noch einmal herkommen, vor allem nicht hungrig. Vorab gut gegessen zu haben, wäre schon einmal eine gute Basis, um mehr Drinks testen zu können. Oder währenddessen? Und während mir das Ganze so durch den Kopf geht, wird mir von einem Secret Dinner berichtet, das jetzt alle vier bis sechs Wochen in der Lounge stattfindet. Ich höre, dass es sich dabei um ein Sieben-Gänge-Fine-Dining-Menü mit passenden Weinen und Cocktails handelt. Passt, denke ich. Dann nehme ich noch einen Schluck von meinem Drink, der mittlerweile zwar nicht mehr dampft, aber immer noch wunderbar schmeckt.