Über 80 Kinofilme in 40 Jahren. Was für eine Karriere. Gary Oldman ist ein Charakterdarsteller par excellence. Und seit zwei Jahren mischt er in der Krimi-TV-Serie „Slow Horses“ auch den britischen Geheimdienst auf.
Was haben Dracula, Sid Vicious von den Sex Pistols, Beethoven, der Kennedy-Attentäter Lee Harvey Oswald, der britische Geheimagent George Smiley und Winston Churchill gemeinsam? Sie alle wurden von Gary Oldman dargestellt – und noch viele mehr. Damit gehört er zu den wandlungsfähigsten Schauspielern seiner Generation. Und zu den besten. Es wäre also nicht verwunderlich, wenn einem beim Interview einer dieser aufgeblasenen Filmstars gegenübersitzen würde – mit einem Ego so groß wie das London Eye. Doch Gary Oldman hält den Ball flach. „Ich habe einfach meinen Job gemacht. Und wenn sich Leute noch nach Jahren an Rollen erinnern, die ich gespielt habe, dann freut mich das natürlich.“ Mit einem amüsierten Blick über den Rand seiner dicken schwarzen Brille fügt er hinzu: „Vorausgesetzt, es sind die richtigen Filme.“
Die Schauspielerei ist für den smarten Briten in erster Linie Handwerk. Da ist kein Platz für Glamour oder Mythos. Und was ihn wirklich auf die Palme bringt, ist die Glorifizierung des Schauspieler-Berufes: „Wenn Ihnen ein Schauspieler erzählt, dass er ‚ganz eins mit der Rolle wurde‘, ist er entweder schizophren – oder er nimmt Sie auf dem Arm. Doch verstehen Sie mich nicht falsch: Ich liebe die Schauspielerei. Sie erfüllt mich und ermöglicht mir ein schönes Leben. Trotzdem: Sollte ich mal sehr reich sein, höre ich auf einen Schlag damit auf und spiele lieber an einem Karibik-Strand mit meinen Kindern Fußball. Solange es nicht soweit ist, sage ich mir nach jedem Film: Okay, mach’ es noch einmal. Und wenn es geht, mach’ es besser!“
Arbeiterklasse im rauen Süd-London
Oldman ist ein sehr angenehmer Gesprächspartner. Er redet eher leise, in einem abgemilderten Cockney-Dialekt, gestikuliert kaum und lächelt gern. „Im wirklichen Leben bin ich eher introvertiert, ja sogar scheu“, gibt er zu. „Auch deshalb habe ich den idealen Beruf ergriffen. Denn als Schauspieler kann ich mich sehr gut hinter meinen Figuren verstecken. Ich bin wie ein Chamäleon.“ Fragt man ihn nach seinen Lieblingsfilmen, wiegelt er lachend ab: „Ich habe überhaupt nichts übrig für diese Art von Nostalgie-Show. Ich lebe im Hier und Jetzt.“
Dass Gary Oldman, der am 21. März 64 Jahre alt wird, überhaupt Schauspieler wurde, grenzt an ein mittleres Wunder. Denn für einen aus der Arbeiterklasse, der im rauen Süd-London aufwächst, ist Hollywood mindestens so unerreichbar wie die Kronjuwelen der Queen. Der Vater, ein Säufer, lässt die Familie im Stich, als Oldman sieben ist. Die Mutter, eine einfache Hausfrau, versucht verzweifelt, mit ihrem Sohn über die Runden zu kommen. „Harte Fäuste, Hektoliter Bier“, beschreibt Oldman lakonisch das triste Milieu, in dem er aufwächst. „Man redete kaum miteinander und wenn doch, dann meist über Sex und Fußball.“ Doch der junge Gary wird nicht der nächste George Best, sondern Schauspieler. Als Teenager sieht er das britische Enfant terrible Malcolm McDowell in dem Drama „Der wütende Mond“ – ein Schlüsselerlebnis. Für Oldman ist klar: Er wird Schauspieler! Nach einer Ausbildung am Royal Court Theatre startet er dann auch ziemlich erfolgreich seine Karriere als Darsteller auf den Bühnen im Londoner West End. Endlich ist Schluss mit den drögen Nebenjobs als Schuhverkäufer oder im Schlachthof.
Mitte der 80er-Jahre kommt er schließlich zum Film. In dem Biopic „Sid & Nancy“ spielt er Sid Vicious, den Bassisten der Punkrock-Band Sex Pistols, der seine Freundin Nancy im Heroin-Rausch ersticht. Heute lässt Oldman kein gutes Haar mehr an dem Streifen: „Ein schrecklicher Film. Mir hat weder die Rolle gefallen, noch stand ich auf Punkrock. Ich bin mehr der Blues- und Motown-Fan. Eigentlich habe ich den Film nur wegen des Geldes gemacht. Am Theater verdiente ich 80 Pfund in der Woche – für den Film gab es 35.000! Ich dachte: Da kannst du dir endlich eine Wohnung kaufen. Ich war 28 und fand, es wäre langsam an der Zeit durchzustarten.“ Die Rolle des spindeldürren Punkers – für die Oldman über 20 Kilo abgenommen hatte – bringt ihm tatsächlich den internationalen Durchbruch. Anfang der 90er-Jahre krallt sich Hollywood den smarten Briten und hat ihn bis heute nicht mehr losgelassen.
Viele Jahre lang spielte Gary Oldman vor allem düstere Charaktere, wie zum Beispiel Dracula, den Zorg in „Das fünfte Element“ oder Norman Stansfield, den korrupten, pilleneinwerfenden New Yorker Polizisten in „Léon – Der Profi“. Doch nach und nach gelang es ihm, auch substantiellere Rollen an Land zu ziehen: Als Ludwig van Beethoven zum Beispiel und als Sirius Black, den er – zu seiner großen Freude – in diversen „Harry Potter“-Filmen spielte. „Ich bin sehr froh darüber, dass es mir gelungen ist, im Laufe der Zeit mein Image als Schauspieler immer wieder zu verändern. Wie gern habe ich zum Beispiel in den ‚Harry Potter’-Filmen mitgespielt! Und wie schön wäre es, wenn man mich auch mal für eine romantische Komödie haben wollte … Wenn ich ganz ehrlich bin, gibt es natürlich auch Filme, auf die ich stolz bin, darunter die John-le-Carré-Verfilmung ‚Dame, König, As, Spion‘, in der ich den George Smiley spiele, genau wie ‚JFK – Tatort Dallas‘ von Oliver Stone.“
Unvergessliche Oldman-Galerie
Für seine Rolle als britischer Spion George Smiley wurde Gary Oldman 2012 zum ersten Mal für den Oscar nominiert. Seinen größten Triumph konnte er dann sechs Jahre später feiern: Für seine phänomenale Darstellung von Winston Churchill in dem Zweiter-Weltkriegs-Drama „Die dunkelste Stunde“ bekam er nicht nur den Oscar als bester Schauspieler, sondern auch noch den Golden Globe und viele andere Auszeichnungen. Oldman erinnert sich: „Mich da durchzubeißen, sozusagen zum Churchill-Kern vorzudringen, war wahnsinnig schwierig. Ich wollte ihn ja nicht etwa als ikonografische Figur oder den Retter Großbritanniens spielen, sondern Churchill lebensnah zeigen und vor allem frei von Klischees.“ Und wie es dem schlanken und agilen Oldman – durch alle Prothesen, Fettpolster, Perücken und Make-up-Schichten hindurch – gelingt, den teigigen und trägen Churchill lebendig werden zu lassen, ist schlicht sensationell. So hat er der Oldman-Galerie eine weitere unvergessliche Figur hinzugefügt.
In den 90er-Jahren zieht Gary Oldman von London nach Los Angeles, um „auch in Hollywood sichtbarer zu sein“, wie er scherzhaft sagt. Seine Rechnung geht auf. Regisseure wie Oliver Stone, Francis Ford Coppola und Ridley Scott reißen sich um ihn. Er spielt an der Seite von Tom Cruise, Brad Pitt, Harrison Ford und Anthony Hopkins. Und auch privat lebt er das Leben eines Hollywoodstars auf der Überholspur. Hat Affären, unter anderem mit Isabella Rossellini, heiratet die Tarantino-Muse Uma Thurman, lässt sich scheiden, säuft mit Kiefer Sutherland und wird mit ihm sturzbetrunken am Steuer erwischt. Mittlerweile ist er schwerer Alkoholiker. „Es gab damals keinen Tag, an dem ich nüchtern war. Wodka, Whisky, Wein, Bier, Cocktails – mir schmeckt einfach alles. Und ich fand auch immer schnell einen Grund, um mich zu besaufen.“ Amüsiert fährt er fort: „Hey, die Sonne scheint – wie wär’s mit ein paar Martinis? Hey, es regnet – lass uns eine Flasche Whisky leeren. Ich bin happy – lass es uns feiern! Ich bin traurig, wie wär’s mit ein paar Drinks? Hätte ich so weitergemacht, dann hätte ich mich totgesoffen.“
Doch Oldman zieht die Reißleine. Der Party-Boy will seine Sucht in den Griff kriegen. Geht zu AA-Meetings. Dort trifft er das Model Donya Fiorentino, die beiden heiraten 1997. Es ist Oldmans dritte Ehe. „Unsere Ehe war ein gigantischer Autounfall“, sagt Fiorentino der britischen Presse. Und weiter: „Während dieser Zeit hat er auch Unsummen für Alkohol, Drogen und Prostituierte ausgegeben.“ Oldman hat sich dazu nicht geäußert. Fakt ist allerdings, dass er kein Kind von Traurigkeit war. „Natürlich gab es Groupies, mit denen ich schon ein paar wilde Nächte verbracht habe.“ Und weiter: „In der Branche ist man von attraktiven Menschen umgeben, man ist jung und eines führt zum anderen.“ Oldman heute: „Diese wilden Jahre sind längst passé. Seit über 25 Jahren habe ich keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.“ Nach vier gescheiterten Ehen gab Oldman 2017 seiner Lebensgefährtin Gisele Schmidt das Ja-Wort. „Es ist garantiert das letzte Mal, dass ich in diesem Leben heirate“, meint er verschmitzt.
„Ein anständiger Kerl sein“
Fragt man Gary Oldman nach seinem moralischen Kompass, schaut er einen lange an und sagt dann nachdenklich: „Ich gebe mir sehr viel Mühe, achtsam durchs Leben zu gehen. Und ich passe sehr genau auf, die Gefühle von anderen nicht zu verletzen. Denn ich weiß nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn jemand auf einem herumtrampelt. Ich versuche einfach, ein anständiger Kerl zu sein.“ Und mit einem Lächeln fährt er fort: „Ich habe drei Söhne und einen Stiefsohn. Sie sind keine Genies, aber sie sind sehr nette Menschen. Wirklich liebenswert. Und wenn jemand zu mir sagt: ‚Ich habe gestern deinen Sohn Charlie getroffen, der ist ja so ein toller Kerl‘, dann geht mir das Herz auf. Sie sind wirklich gute Menschen. Und dass sie so wurden, das ist meine größte Leistung im Leben. Darauf bin ich wirklich sehr stolz. Meiner Meinung nach könnte die Welt nämlich viel mehr nette und gute Menschen gebrauchen. Genies hat sie schon genug.“
Gary Oldman wollte eigentlich etwas kürzertreten und nicht mehr so oft vor der Kamera stehen, als er 2022 das Angebot bekam, die Hauptrolle in der britischen TV-Krimi-Serie „Slow Horses“ (siehe Serientipp auf Seite 82) zu spielen. „So einen süffigen Charakter wie Jackson Lamb konnte ich mir nun wirklich nicht entgehen lassen“, meint er mit einem breiten Grinsen. „Jack ist extrem übellaunig, behandelt seine Kollegen wie den letzten Dreck und ist die meiste Zeit besoffen. Ich bin sehr froh, dass es kein Geruchs-Fernsehen gibt. Denn Jackson wechselt nur sehr ungern seine Klamotten und hält Duschen für krasse Wasserverschwendung. Aber hinter dieser Fassade hat er einen rasiermesserscharfen Verstand und weiß als ehemaliger Geheimdienstoffizier nur allzu gut, wie der Hase läuft.“ In dieser Rolle verschwindet Gary Oldman nicht wie so oft hinter Make-up und Prothesen, sondern ist roh, direkt und „viel näher an meinem eigentlichen Ich“, wie er augenzwinkernd einräumt. Dass er dabei auch seine ganze schauspielerische Brillanz ausleben kann, ist ein weiteres Highlight seines Schaffens.