Fast zehn Millionen Euro stellt der Gemeinsame Bundesausschuss für DIKOM (Diagnostik und Konsil im Pflegeheim mittels mobiler Geriatrie-Unit) bereit. Projektleiter Prof. Dr. Klaus Faßbender, Direktor der Neurologischen Klinik der Universität des Saarlandes, präsentierte kürzlich sein innovatives Modellprojekt.
Derzeit leben im Saarland mehr als 73.000 pflegebedürftige Menschen, davon circa 13.000 in Pflegeheimen. Für medizinische Untersuchungen werden stark in ihrer Bewegung eingeschränkte Senioren bisher in die Kliniken des Saarlandes überwiesen. Sowohl der Transport als auch die fremde Umgebung werden dabei aber oft als zusätzliche Belastung mit langanhaltenden Beschwerden erlebt. Um sowohl das Leid der Patientinnen und Patienten zu lindern, die Notaufnahmen der Krankenhäuser zu entlasten und die medizinische Versorgung von Hausärzten in Pflegeheimen zu stärken hat Professor Klaus Faßbender, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS), gemeinsam mit seinem Team ein umfangreiches Konzept für die mobile Diagnostik von Pflegeheimbewohnern erarbeitet.
In den nächsten drei Jahren soll so Pflegegeschichte geschrieben werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss, das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, hat die Neurologische Klinik am Universitätsklinikum des Saarlandes beauftragt, durch „Diagnostik und Konsil im Pflegeheim mittels mobiler Geriatrie-Unit“ (DIKOM) nicht bedarfsnotwendige Klinikeinweisungen von Heimbewohnern – laut einem Pflegebericht der AOK aus dem Jahr 2018 sind das immerhin 40,5 Prozent – zu vermeiden.
Modellprojekt läuft über drei Jahre
Mithilfe einer Mobilen Geriatrie-Unit (MGU) soll apparative Diagnostik direkt im Pflegeheim durchgeführt werden. Die MGU ist ein LKW, ausgestattet mit CT, Röntgen, EKG, EEG, Ultraschall und einem Labor. Eine Fachärztin beziehungsweise ein Facharzt und ein Radiologie-MTA (medizinisch technischer Assistent) bilden das Team in der Mobilen Geriatrie-Unit. Die vor Ort erhobenen Befunde werden direkt an Expertinnen und Experten in den Unikliniken übermittelt und in einem telemedizinischen Konsil, auch mit Experten aus niedergelassenen Arztpraxen beraten. Die Untersuchungsergebnisse werden schnellstmöglich an den zuständigen Arzt sowie das Pflegeheim zur Einleitung der medizinischen Anschlussversorgung in der vertrauten Umgebung zurückübertragen. So können die pflegebedürftigen Patientinnen und Patienten in der Pflegeeinrichtung bleiben und dort weiterbehandelt werden. „Wir stärken damit die Haus- und Fachärzte vor Ort und entlasten die Krankenhäuser, die damit mehr Zeit für schwerwiegendere Notfälle haben“, unterstreicht Klaus Faßbender.
In einer cluster-randomisierten Studie mit externer wissenschaftlicher Begleitung soll geprüft werden, ob die apparative Diagnostik direkt im Pflegeheim die Rate von Krankenhauseinweisungen verringern kann und ob sich dies im Umkehrschluss günstig auf die Entwicklung von Pflegebedürftigkeit und Kosten auswirkt. In einem Zeitraum von insgesamt 27 Monaten sollen 2.277 Betroffene in einer Interventions- und 2.984 in einer Kontrollgruppe parallel begleitet werden, um so die tatsächliche Wirkung der unterschiedlichen Versorgung zu prüfen. 9,8 Millionen Euro Fördergelder werden für das drei Jahre andauernde Projekt vom Gemeinsamen Bundesausschuss dabei zur Verfügung gestellt. Ab der zweiten Jahreshälfte 2024 soll die MGU einsatzbereit sein.
„Wenn hochbetagte, in ihrer Mobilität eingeschränkte und vielleicht auch demente Menschen im Pflegeheim stürzen oder erkranken, dann stellen der Transport in die Klinik und die ungewohnte Umgebung sie oftmals vor große Herausforderungen. Das ist mit Ängsten verbunden, mit Stress und manchmal auch mit Verwirrtheit und Aggressionen. Eine schwierige Situation, die nun durch das neue Modellprojekt gut gelöst werden könnte“, erklärt Serhat Sari, Pflegedirektor und Mitglied im Vorstand des Universitätsklinikums des Saarlandes, bei der Vorstellung des Projektes in Saarbrücken. „DIKOM bereitet den Weg für zukunftsfähige, patientenzentrierte Versorgungskonzepte und für eine Entlastung der knappen Ressourcen im stationären Bereich. In Anbetracht der demographischen Entwicklung und des steigenden Bedarfs an pflegerischer Versorgung bedeutet dies einen wichtigen Schritt in Richtung eines nachhaltigen und gerechten Gesundheitssystems.“
„DIKOM kann Wegweiser sein, wie die medizinische Versorgung in Pflegeheimen als ‚Dauerbrenner‘ der stationären Pflege aus dem Schattendasein der ambulanten Medizin heraustreten und für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mehr Versorgungsqualität, Entlastung und Sicherheit gewährleisten kann“, fasst der Vorsitzende der Saarländischen Pflegegesellschaft, Dr. Michael Schröder seine Erwartungen an das Modell zusammen.
Mit Professor Dr. Klaus Faßbender hat das Team keinen unbekannten Leiter. Bereits vor 20 Jahren schrieb der Professor mit der „Mobile Stroke Unit“ Medizingeschichte. Die „Weltneuheit“, mit der Schlaganfall-Patienten, die oft lebensrettenden Maßnahmen bereits im Rettungswagen erhalten können, ist zwischenzeitlich weltweit in vielen Ländern im Einsatz und heute nicht mehr aus der medizinischen Notfallversorgung wegzudenken. Auch die MGU hat dieses Potenzial.
Unterstützt wird das neue Modellprojekt durch die Saarländische Pflegegesellschaft, die Kassenärztliche Vereinigung, alle im Saarland tätigen Kranken- und Pflegekassen sowie durch verschiedene Institute der Universitätsklinik und das geriatrisch ausgerichtete Krankenhaus Lebach. Projektträger ist die Universität des Saarlandes, der gesamte innovative Versorgungsprozess wird vom Saarbrücker Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (ISO) sowie dem Berliner Institut für angewandte Versorgungsforschung (inav) wissenschaftlich begleitet.
Kooperation und Koordination
Obwohl das Projekt sich erst im Anlauf befindet, ist die Resonanz bereits beachtlich, Faßbender zeigte sich bei der Präsentation in Saarbrücken sehr erfreut: „Niedergelassene Ärzte bieten ihre Mitwirkung an, Heimleitungen fragen nach dem endgültigen Starttermin, das Krankenhaus Lebach etabliert das Patientenmanagement im Wagen, Klinikchefs im UKS bringen ihre fachärztliche Expertise ein und die Politik erkundet sich bereits, wie aus dem Modell nach einem erfolgreichen Verlauf Regel werden kann.“
Das A und O für einen erfolgreichen Modellverlauf ist die Kooperation und Koordination: „Das Gelingen des aktuell einzigartigen Modells ist von der Mitwirkung vieler Partner abhängig. Der medizinisch ausgestattete LKW muss von den Hausärztinnen und -ärzten der Pflegeheimbewohner verordnet und von den Einrichtungen offensiv genutzt werden“, so Staatssekretärin Bettina Altesleben vom Gesundheitsministerium. Auch für Prof. Dr. Monika Ludwig vom Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft, die ebenfalls bei der Projektvorstellung zu Wort kam, ist klar: „Nur wenn Kooperation und Koordination gelingen, wird diese sektorenübergreifende Versorgungsform funktionieren“.
Ein erfolgreicher Modellverlauf wäre gerade im Saarland wünschenswert. Gemeinsam mit Rheinland-Pfalz liegt das Saarland mit erheblichem Abstand bundesweit an der Spitze bei den „kurzen Krankenhausaufenthalten“, zu denen auch die nicht bedarfsnotwendigen Einweisungen von Heimbewohnern gehören. „In einer Zeit zunehmend knapper personeller Ressourcen kann und wird gerade dieses Projekt sicherlich eine deutliche Arbeitserleichterung für Pflegekräfte, medizinische Fachangestellte und Fachkräfte und die beteiligten Ärztinnen und Ärzte bringen“, ist sich Dr. Thomas Rehlinger, Stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung des Saarlandes, sicher.