Deutschland will sich beim Sport in der Spitze und Breite besser aufstellen – in diesem Ziel sind sich alle einig. Doch auf dem gemeinsamen Weg dorthin müssen der organisierte Sport und der Bund Kompromisse finden.

Karl Lauterbach trug eine dunkelblaue Sportjacke, Nancy Faeser weiße Turnschuhe. Die beiden Bundesminister dürften sich in einer Turnhalle der Sportschule im Berliner Olympiapark an ihre Schulzeit zurückerinnert haben. Doch sie waren nicht aus Nostalgie-Gründen zu dem Termin gekommen, sondern um ein Projekt für die Zukunft zu unterstützen. Beim zweiten Bewegungsgipfel warben beide Spitzenpolitiker für den sogenannten „Entwicklungsplan Sport“, „mit dem wir dem Sport und der Bewegung in Deutschland starke Impulse verleihen wollen“, wie die für den Sport zuständige Bundesinnenministerin Faeser betonte. Ihr SPD-Parteikollege und Gesundheitsminister Lauterbach berichtete, dass der sogenannte Runde Tisch „Bewegung und Gesundheit“ ein „voller Erfolg“ gewesen sei. Faeser und Lauterbach hätten sich mit „hochrangigen Vertreterinnen und Vertretern von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden sowie des organisierten Sports zum zweiten Bewegungsgipfel“ eingefunden, schrieb das BMI. Also alles ein einziger großer Erfolg? Mitnichten. Die 16 Landessportbünde mit ihren rund 87.000 Vereinen hatten das Treffen geschlossen boykottiert und ihre Gründe dafür öffentlichkeitswirksam dargelegt.
Wie mit dem ICE gegen einen Prellbock fahren
Es mache „überhaupt keinen Sinn, einen Bewegungsgipfel abzuhalten mit nichts in der Hand“, sagte Jörg Ammon als Sprecher der Landesverbände der ARD-Sportschau. Der Präsident des Bayerischen Landes-Sportverbandes sparte nicht mit Kritik an den politischen Gremien und Entscheidungsträgern, von denen sich der Breitensport ausgebremst fühlt. „Wenn wir mit so vielen Menschen, so viel Idealismus und auch so viel Wissen losstarten, ein gutes Jahr daran arbeiten, dass wir den Sport vorwärtsbringen, und dann hinterher keinerlei Verbindlichkeit haben, keinerlei Mittel eingestellt bekommen ins Jahr 2024“, sagte Ammon, „dann ist es wie mit einem ICE bei voller Geschwindigkeit gegen einen Prellbock zu fahren“. Die mangelhafte Zusammenarbeit mit dem Bund und die fehlenden konkreten Maßnahmen und Finanzierungszusagen hätten „bei den Beteiligten zu großer Ernüchterung geführt“.

übt Kritik am Gesetzesentwurf - Foto: IMAGO/Gerhard K√∂nig
Dabei sind sich alle Seiten einig: Um die Auswirkungen der Corona-Pandemie abzufedern und die Menschen wieder zu mehr Sport zu animieren, braucht es konkrete Lösungen und Ideen. Zahlreiche Studien zeigen beispielsweise, dass die Zahl der Kinder mit krankhaftem Übergewicht seit Jahren steigt. Eine Tendenz, die durch Corona und die zeitweise Einschränkung oder gar Verbote von Sportangeboten nochmals verstärkt wurde. Aus diesem Dilemma kommt die Gesellschaft nur gemeinsam heraus – auch deshalb ist der Boykott des Bewegungsgipfels durch die 16 Landessportbünde ein ganz schlechtes Zeichen. Wenn diese bei so einem Projekt nicht dabei sind, meinte Sportwissenschaftler Ingo Froböse, „fehlen die wichtigsten Player“. Auch aus anderen Gründen sei der Bewegungsgipfel nur „ein Feigenblatt für die Politik. Er springt viel zu kurz“, sagte der Professor der Deutschen Sporthochschule in Köln der „Augsburger Allgemeinen“. Er wünschte sich verpflichtende Regeln bei Bewegung und Sport, denn: „Der Bewegungsmangel wird immer noch schlimmer – mit gravierenden Auswirkungen für die Gesundheit und für unsere Gesellschaft insgesamt.“
Offener Konfrontationskurs
Dem Bewegungsgipfel fern blieb auch Thomas Weikert. Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes ließ sich erkrankt entschuldigen. Es ist aber bekannt, dass auch der DOSB den „Entwicklungsplan Sport“ in seiner jetzigen Form ablehnt. „So viel Aufbruch war nie, entsprechend groß ist die Enttäuschung“, schrieb der DOSB in einem Artikel mit dem Titel „Gipfel im Nebel?“ auf seiner Internetseite. Dort kommt auch DOSB-Vizepräsidentin Kerstin Holze zu Wort, sie sagt: „Der große Paradigmenwechsel findet nicht statt.“ Doch nicht nur im Breitensport knirscht es aktuell zwischen dem BMI als größtem Geldgeber und dem DOSB als Dachverband aller Sporttreibenden gewaltig. Auch bei der geplanten Reform der Spitzensportförderung sind unverkennbare Misstöne zu vernehmen. In einer Mitteilung am 1. März ging der DOSB sogar offen auf Konfrontationskurs mit dem BMI, als er den 52-seitigen Gesetzentwurf der Bundesregierung scharf kritisierte. Dieser sei für „den gesamten organisierten Sport in Deutschland nicht akzeptabel“ und stelle „die bisher vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem organisierten Sport in Frage“.

Kritisiert wurden in dem Schreiben „deutliche Umsetzungsschwächen“ bei den Themen „Unabhängigkeit der Sportagentur“, „Kooperation zwischen Politik und Sport auf Augenhöhe“ sowie „Bürokratieabbau“. Der Weg zu einer effizienteren Struktur würde in dem Entwurf „allenfalls angedeutet“, heißt es in der DOSB-Mitteilung. Man befürchte gar „eine Verschlechterung des Status quo“. Darunter würden vor allem die Athleten und Athletinnen leiden, „das Erreichen der sportlichen Zielstellungen und künftige Erfolge auf Spitzenniveau werden mit dem vorliegenden Entwurf massiv gefährdet“. Es wird deutlich: Größter Streitpunkt ist die sogenannte Sportagentur, die die Verteilung des Fördergeldes aus öffentlicher Hand künftig steuern soll. Gemäß des Gesetzentwurfs hätte der Bund aufgrund eines Vetorechts das letzte Wort bei der Mittelvergabe, was DOSB-Chef Weikert für kontraproduktiv hält: „Von einer Unabhängigkeit der Agentur kann man angesichts der ihr in diesem Entwurf durch den Bund angelegten Fesseln nicht mehr sprechen“. Er äußerte gar mehr oder weniger direkt eine Androhung, die Spitzensportreform blockieren zu wollen. Man werde sich diesem Prozess „im Interesse der Athleten und Athletinnen und des Spitzensports in Deutschland im weiteren Verfahren deutlich entgegenstellen“.
Für SPD-Politiker Martin Gerster ist jedoch klar, dass der Bund bei der Agentur ein Kontrollrecht innehaben muss. Das sei in den ersten Entwürfen nicht vorgesehen gewesen, deshalb hatte Gerster im Haushaltsausschuss bei der Einzelplanberatung für den BMI-Etat 2024 sein Veto für den Zuschuss von 600.000 Euro zum Aufbau der Agentur eingelegt und Nachbesserungen gefordert. „Dutzende von Beiräten sollen entscheiden, wie jedes Jahr rund 200 Millionen Euro Bundesmittel ausgegeben werden. Da mache ich nicht mit. Schließlich geht es um Steuergeld“, sagte er.
Warum aber pocht der DOSB so sehr auf das letzte Wort bei der Mittelvergabe? „Es geht dem DOSB nicht um einen Machterhalt“, betonte der Vorstandsvorsitzende Torsten Burmester. Er erklärte: „Wir wollten die Agentur von sachfremden Interessen freihalten, die in der Vergangenheit allzu oft dazu geführt haben, dass die Entscheidungen nicht getroffen wurden.“ Man sei aber weiterhin der Überzeugung, „dass ein eigenständiger, unabhängiger sportfachlicher Akteur“ die schwierigen Komplexe Sportförderung und Spitzensportsteuerung besser zusammenführen könne, und deshalb gebe man „die Kompetenz gerne ab in eine Agentur“, bekräftigte Burmester. Nur eben nicht zu den aktuell ausgeschriebenen Bedingungen. Ist das Tischtuch komplett zerschnitten? Nein, meinte der DOSB-Vorstandschef. Er verglich es mit einer Ehe, „da streitet man sich“ ja bekanntlich auch manchmal. „Ich hoffe, dass man sich auch wieder versöhnt und zu einem guten Ergebnis kommt.“
Rund 300 Millionen für den Spitzensport
Das ist sicher im Sinne aller Beteiligten, denn sie verfolgen alle ein Ziel: den Breitensport auf ein größeres Fundament zu stellen und den Leistungssport zu größeren Erfolgen zu führen. „Wir wollen den deutschen Sport international wieder an die Spitze bringen. Wir wollen wieder mehr Medaillen nach Deutschland holen“, sagte Faeser. Die reformierte Sportförderung sei dafür die Grundvoraussetzung, sie soll künftig flexibler, digitaler und innovativer vonstattengehen. Das sei „ein großer Schritt, um den deutschen Spitzensport zukunftsfest zu machen“, meinte die Bundesinnenministerin. Doch natürlich hängt auch hier vieles an den Finanzen. Bessere Ausbildung von Trainern, verlängerte Trainingslager in der Höhe, mehr leistungsbezogene Projekte – all das kostet Geld. Und ursprünglich musste der deutsche Sport im Olympiajahr 2024 gar gravierende Mittel-Kürzungen von rund zehn Prozent im Sporthaushalt befürchten. Doch dieses Szenario konnte im parlamentarischen Verfahren abgewendet werden. In diesem Jahr werden also rund 300 Millionen Euro in den Spitzensport fließen, „im Kontext der mittelbaren und unmittelbaren Sportförderung des Bundes“ stünden bereits über eine Milliarde Euro zur Verfügung, wie das BMI mitteilte.

Auch die Mitarbeiter der Sportinstitute für Sportgeräte-Forschung (FES) und für angewandte Trainingswissenschaften (IAT) dürfen aufatmen. Nach zunächst angedachten starken Kürzungen und großem Protest aus dem Sport erhalten die beiden Institutionen nun sogar 5,4 Millionen Euro mehr aus dem Förder-Topf. Nach eigenen Angaben sind FES und IAT mit ihrer Arbeit an rund dreiviertel aller deutschen Olympia-Medaillen beteiligt. Beim FES werden unter anderem die Bobschlitten gebaut, mit denen die deutschen Piloten im Eiskanal seit Jahren das Wettkampfgeschehen dominieren. Doch anderswo sieht es nicht mehr so rosig aus. Abgesehen von London 2012 war die Medaillen-Ausbeute des deutschen Teams bei den vergangenen sieben Sommerspielen immer rückläufig. Zuletzt gab es in Tokio 2021 insgesamt nur 37 Mal Edelmetall, es war das schwächste Abschneiden seit der Wiedervereinigung. Zum Vergleich: 1992 in Barcelona gab es noch mehr als doppelt so viele Medaillen (82).
Helfen würde auch eine Olympia-Bewerbung, die allen Bemühungen, den Sport in der Breite und Spitze besser aufzustellen, deutlich mehr Schwung verleihen würde. Doch dafür müssten erst wieder alle an einem Strang ziehen.