Bernhard Leonardy und Eva Karolina Behr, Intendant und Künstlerischer Geschäftsführer der Musikfestspiele Saar und Künstlerische Projektleiterin und Dramaturgin, sprechen über die diesjährigen ungewöhnlichen Aufführungsorte, das Bündeln künstlerischer Kräfte und wie die aktuelle Situation in Israel das Programm beeinflusst hat.

Herr Leonardy, Frau Behr, Sie haben wieder tolle Künstler für die Musikfestspiele Saar an Land gezogen. Kommt es eigentlich auch vor, dass Künstler auch mal auf Sie zukommen und anfragen, ob Sie mitmachen können?
Eva Behr: Das gibt es schon hin und wieder, dieses Jahr zum Beispiel bei der jüdischen Konzertreihe. Chen Reiss kam auf uns zu und hat gefragt, ob ihre Studenten aus Tel Aviv aufgrund der aktuellen Situation vielleicht hier ein Konzert geben könnten. Da haben wir uns gerne darauf eingelassen. Aber meistens überlegen wir uns, wen wir ansprechen und schreiben dann die Agenturen an.
Es sind dieses Jahr auch wieder ungewöhnliche Veranstaltungsorte dabei, zum Beispiel die Mensa der Universität in Saarbrücken, eine Halle auf dem Sportcampus der Universität, der Flughafen …
Bernhard Leonardy: Das Spannungsfeld zwischen Aufführungsort und Musik ist ein ganz wesentlicher Attraktivitätsfaktor der Musikfestspiele Saar. Die Kongresshalle ist vielleicht für ein Orchester ein bewährter Ort, wenngleich auch sicher nicht ideal, aber gerade wenn man auch junge Leute erreichen will, ist es gut, wenn man zum Beispiel gerade auch in eine Mensa geht. Wenn man ein anderes Publikum erreichen will, ist es wichtig, sich mobil aufzumachen und dazu einzuladen, sich mit uns auf den Weg zu machen, im wahrsten Sinne des Wortes mit uns zu „fahren“. Das spielt eine wesentliche Rolle bei der Programmgestaltung. Hilfreich ist es auch, beispielsweise die Universität mit zu uns ins Boot zu holen, die sich dann mit uns auf den Weg macht und damit die Konzeption des Festivals unterstützt. Die ganzen Institutionen und Sponsoren, die mit uns nunmehr teilweise seit Jahrzehnten zusammenarbeiten, sind nicht nur Geldgeber und Wegbereiter, sondern auch wichtige Multiplikatoren unserer Festivalidee. Ich glaube, im Saarland wird ein Musikfestival nur nachhaltigen Erfolg haben, wenn man viele Multiplikatoren mit an Bord hat.
Wie kommen Sie auf diese Orte, zum Beispiel die Dachterrasse bei Möbel Martin?
Leonardy: Von oben hat man mehr Überblick (lacht) … ich bin oft oben unterwegs, von den Orgelemporen von Kirchen schaue ich dann runter … (lacht) Nein, ernsthaft, wir versuchen, den Nerv der Zeit zu treffen. Ein Flughafen zum Beispiel ist nur ausgelastet, wenn es Attraktionen hier im Land gibt. Nach Hamburg fliegt man auch wegen der Elbphilharmonie oder einem Musical. Wir brauchen hier ganz dringend Kongresse und Musikangebote von hoher Qualität und Kulturmarken, die etabliert sind. Ich komme gerade aus Barcelona aus dem Weltkulturerbe Palau de la Música. Da habe ich noch mal gespürt, das Beste zu wollen, in allen Nuancen. Von der Musik bis zur Ausgestaltung eines Saales. Das lockt Tausende von Touristen und Unternehmen an und stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Ich glaube, es hat als Statement des Zusammenhalts für eine Gesellschaft auch eine große Kraft, einen großen Musiksaal zu bauen anstatt sicherlich auch leider wichtige Panzer. In diesem Zusammenhang gehen wir bewusst an Orte, in die wir eine neue Energie hineinbringen. Wir versuchen, mit unserem Festival auch die Lebensattraktivität im Saarland hochzuhalten und haben hier noch viele neue Ideen und Potenzial. Wie heißt es so schön für die Kultur: Sie rechnet sich nicht, aber sie zahlt sich aus. Dieser Satz ist doppelt wichtig.

In Ihrem Festival wird auch die aktuelle Situation mit dem Krieg im nahen Osten und dem steigenden Antisemitismus verarbeitet. Wie sehr beschäftigt Sie das?
Behr: Für mich war der 7. Oktober im vergangenen Jahr ein Rieseneinschnitt. Man hat nicht damit gerechnet. Man wächst ja hier in einer Kultur auf, in der man sich seit Kindestagen mit diesem Thema beschäftigt und für sich eine Position einnimmt. Gerade als Deutscher mit der Geschichte, die wir haben. Zu sehen, dass das Ganze überschwappt in die ganze Welt, dass nicht nur der Konflikt dort vor Ort ist, sondern dass er sich im Kleinen und Großen weltweit wiederfindet, ob das in Berlin oder New York ist. New York hat die größte jüdische Gemeinde nach Israel weltweit und selbst dort findet im großen Maße Antisemitismus statt. Das hat mich sehr getroffen, weil ich das in diesem Ausmaß nicht für möglich gehalten hätte. Vor allem, dass sich so viele junge Leute daran beteiligen. Wo man doch denkt, die sind politisch aufgeklärt und haben ein differenziertes Bild von der Welt. Aber dass auch an Orten wie zum Beispiel an Universitäten in Amerika oder Universitäten in Berlin eine Schwarz-Weiß-Positionierung stattfindet, das trifft mich persönlich sehr.
Macht Ihnen diese Entwicklung Sorgen?
Behr: Absolut.
Leonardy: Deshalb versuchen wir jetzt, kein normales Zerstreuungsfestival zu machen, sondern wir versuchen, bestimmte Themen aufzugreifen. Ich habe zum Beispiel den Birkenau-Zyklus von Gerhard Richter vertont, der gerade in der neuen Begegnungsstätte in Auschwitz zu sehen ist. Gerhard Richter hatte mich ermuntert, das zu tun. Man ist im Prinzip zu klein, um solche Gräueltaten als Künstler zu interpretieren, oder die Weltstruktur mit unseren Angeboten zu ändern. Aber ich denke, Willi Graf hat auch hier etwas Wichtiges gesagt: „Jeder Einzelne trägt die volle Verantwortung“. Das ist der Punkt, der uns umtreibt, wo wir sagen, jeder in seinem Bereich muss sich auf die Socken machen und schauen, was kann man machen, wo kann man Menschen wachrütteln und zusammenführen. Wir sind keine Politiker, aber wir versuchen, mit der Kraft der Kultur einen Konsens in die Gesellschaft auszusenden. Das spiegelt sich auch in unserem Förderverein wider. Da gibt es ganz unterschiedliche Menschen, die von überall herkommen, auch unterschiedliche Glaubensideen haben. Die Kultur ist das verbindende Band, das das leisten kann.
Behr: Die Kultur hat auch die Aufgabe. Es haben sich einige wenige Kulturinstitutionen auf den Weg gemacht und uns ist es wichtig, auch daran teilzuhaben. Ich persönlich bin der Überzeugung, dass nur Kultur und Bildung es schaffen können, das zu überwinden.

Was müsste Ihrer Meinung nach noch mehr passieren?
Behr: Sich zu trauen, sich zu positionieren, auch mal ein Statement abzugeben. Wir gehen in die Synagoge und zeigen, dass das wichtig ist. Ich glaube, dass viele politisch sind und eine gesellschaftliche Haltung haben, aber für mich persönlich hat es zu lange gedauert, bis die Massen auf die Straße gingen.
Leonardy: Und dass die Politik und die Gesellschaft erkennen, dass die Kultur in einer Zeitenwende, in einer Zeit der Transformation, keine Nebenrolle übernimmt, sondern ein ganz wichtiger Wegbereiter für Neues sein kann. Und viele Menschen mitnehmen kann, die man durch bloße Worte nicht erreicht. Ich glaube, Musik geht immer noch tiefer. Wenn man sieht, wie jüdische Studenten aus Liebe musizieren, ist das ein viel wichtigeres Statement, als wenn man Plakate klebt.
Sie arbeiten immer mit viel Herzblut und Engagement daran, die Musikfestspiele Saar auf die Beine zu stellen. Woher nehmen Sie die Energie?
Behr: Wir haben alle einen zweiten Job, ohne Idealismus geht es nicht. Jeder in der Kulturbranche arbeitet mit einem gewissen Idealismus. Am Abend dann da zu stehen und zu wissen, das Orchester ist jetzt da, weil wir Wochen gearbeitet haben und Bernhard das Geld dafür eingetrieben hat, das gibt einfach ganz viel zurück. Das ist wahnsinnig wichtig, dass es uns und auch andere Kulturinstitutionen hier gibt. Es ist einfach ein schönes Fleckchen Erde hier, und wichtig, dass es auch ein Musikfestival gibt. Feste Institutionen sind ja nicht so flexibel wie wir. Wir können auf Zeitströmungen, auf politische und gesellschaftliche Ereignisse reagieren, weil wir in der Programmgestaltung viel flexibler und kurzfristiger planen können als die großen Institutionen. Manche Ideen kommen auch relativ spontan und sehr kurzfristig. Dann findet der Druck vom Programmheft schon statt und dann noch mal reinzuhauen und das noch zu schaffen, mit einem Team aus Leuten, die alle diesen Idealismus haben, das spornt an. So anstrengend es auch manchmal ist, aber am Schluss dieses Heft in den Händen zu halten und zu wissen, dass die auch alle kommen, die da drin stehen, das macht einfach wahnsinnig viel Spaß. Natürlich wäre es schöner und wichtig für die Zukunft, dass man finanziell besser planen könnte. Sodass wir längerfristige Strukturen hätten, dass Mitarbeiter wüssten, sie können mal ein paar Jahre bleiben. Dann könnte man gewisse Bereiche noch besser ausbauen.
Ich weiß, diese Frage ist immer schwierig für Sie, aber es interessiert mich trotzdem: Auf welche Künstler freuen Sie sich besonders?
Leonardy: Die Orgel klammern wir mal aus (lacht). Ich freue mich ganz besonders auf die Wiener Klammer, das sind die Wiener Symphoniker mit diesem tollen Dirigenten, der ein ganz Großer ist. Das Orchester kommt mit über 100 Musikern, das ist eine große Sache. Wir versuchen, das Holz im Saal des Sportcampus zum Klingen zu bringen und bauen dort eine richtige Konzertbühne hinein. Das wird sicherlich ein spektakuläres Ereignis. Und dann das beste Orchester der Welt, die Wiener Philharmoniker gewonnen zu haben, in Zusammenarbeit mit der dortigen Orchesterakademie und der Gründung unseres Exzellenz-Clusters Musik Saar, das bringt uns international ein gutes Stück nach vorne. Wir sind schon auf einem Uefa-Cup-Platz gelandet (lacht).
Behr: Auf was ich mich wirklich sehr freue, ist das Konzert mit Daniel Ottensamer, dem Solo-Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, der mit seinem Trio kommt. Ich bin ein absoluter Kammermusik-Fan und diese Formation hört man nicht so oft. Das Ensemble hat auch ein Fragment von Arnold Schönberg entdeckt, darauf freue ich mich sehr. Und ich freue mich auf den Schauspieler Michael Rotschopf. Er ist einfach ein wahnsinnig vielseitiger Künstler, ob als Theaterschauspieler, Darsteller in zahlreichen Filmproduktionen, aber auch als Sänger in Stücken wie der „Dreigroschenoper„ und nicht zuletzt als Entwickler von klugen künstlerischen Konzepten.
Welches Thema liegt Ihnen noch besonders am Herzen?

Leonardy: Ich wäre begeistert, wenn die Musikfestspiele Saar in einer noch größeren Form ein gemeinsamer Nenner wären für viele musikalische Ideen und Formate, die es hier im Saarland gibt. Dass wir eine Zusammenarbeit fördern. Dass sich die Kräfte verästeln, das ist eine Gefahr, die ich momentan sehe. Jeder einzelne scheint hier alleine unterwegs, dabei werden die Anforderungen an die Festivalarbeit in der heutigen Zeit einfach immer höher. Es fängt bei der Sicherheit an, Rotes Kreuz, über die Haftpflicht, bis hin zur professionellen Buchführung und steuerlichen Veranlagung, alles sehr komplex. Und das alles bräuchte keine Pa-rallelstruktur. Ich würde mir wünschen, man hätte ein gemeinsames Cluster, ohne dass man das eigene aufgibt. Dann könnte man langfristig so etwas auch viel stärker im Landeshaushalt verankern. Und der Kultur den Stellenwert geben, den sie verdient. Das wäre eine große Chance für das Kulturland Saarland.
Sie gehen ja dieses Jahr von der Klassik hier und da ein bisschen weg, zum Beispiel mit der Techno-Formation Meute oder auch mit den Tanzveranstaltungen. Sie möchten sich also noch mehr anderen Genres öffnen.
Leonardy: Ja. Zum Beispiel, wenn jemand ein Tanzfestival oder Musikveranstaltungen mit Kindern plant, warum könnte es nicht im Zusammenhang oder Kooperation mit uns entstehen? Das sind so spontane Beispiele. Oder auch die größeren Festivals, wie Festival Perspectives. Wenn man Festivals und ihre gemeinsame Bewerbung zusammenzieht, hätte man dadurch eine deutlich größere Schlagkraft.