In den Niederlanden haben die zähen Koalitionsverhandlungen zu einer ungewöhnlichen Idee geführt: eine „außerparlamentarische Regierung“. Ob sie zustande kommt, ist noch unklar. Aber die Idee hat ihren Reiz.
Regierungsbildungen werden zunehmend schwieriger. In Spanien hat Pedro Sánchez im letzten Jahr drei Monate gebraucht, um mühsam und unter heftigen öffentlichen Protesten eine Mehrheit nach der Wahl zusammenzubringen. Der Preis war eine Amnestie für katalanische Separatisten, gegen die sich bis heute massiver Widerstand regt. Zunehmend zersplitterte Parteienlandschaften und gleichzeitig vergleichsweise hohe Zustimmung für populistische Kräfte am Rande des Parteienspektrums machen Koalitionsverhandlungen zu einem mühsamen Geschäft. Das kann wie in Deutschland nach der letzten Bundestagswahl zu einer Koalition mit teilweise sehr unterschiedlichen Partnern führen. Die Ampel zeigt, was das im konkreten Regierungshandeln bedeuten kann. Und nach den Landtagswahlen im kommenden Herbst in drei ostdeutschen Ländern wird ebenfalls angesichts der Umfragen über höchst ungewöhnliche Koalitionsoptionen diskutiert.
In den Niederlanden dagegen sieht es derzeit so aus, als könnte ausgerechnet der Wahlsieg des Rechtspopulisten Geert Wilders im vergangenen Jahr nun zu einem ganz anderen Regierungsmodell jenseits klassischer Parteienkoalitionen führen: Eine „außerparlamentarische Regierung“. Grund für diese Idee ist der außerordentliche Erfolg einer Partei, die erst drei Monate vor der Wahl gegründet wurde, mit Parteigründer und Ideengeben Pieter Omtzigt als treibende Kraft.
Regierung ohne Spitzenkandidaten
Regierungsbildungen in den Niederlanden sind für Nicht-Niederländer ein gewöhnungsbedürftiger Vorgang. 299 Tage, also neun Monate, dauerte es beim letzten Mal, bis Mark Rutte die Regierungsgeschäfte erneut übernehmen konnte. 271 Tage war zuvor verhandelt worden. Und auch diesmal zieht es sich schon eine geraume Weile hin. Seit vergangenem November sucht eine ziemlich zersplitterte Parteienlandschaft nach einer möglichen Regierungskoalition und einem neuen Regierungschef.
Klar ist nach wochenlangen Verhandlungen: Der Wahlsieger wird nach letztem Stand der Dinge auf das Amt des Ministerpräsidenten verzichten müssen. Dabei war der Rechtspopulist Geert Wilders kurz davor, Mark Rutte von der liberalen Volkspartei VVP zu beerben. Wilders Partei PVV hatte die Parlamentswahl am 23. November klar gewonnen. „Herzlichen Glückwunsch“, twitterte damals AfD-Parteichefin Alice Weidel. Zwar hatte Wilders Partei ihr Ergebnis verdoppelt, aber die erreichten 37 Sitze (von 150 insgesamt im Parlament) reichen eben bei Weitem nicht aus. Koalitionspartner waren erforderlich. Infrage kommen die als Protestpartei gestartete Bauern-Bürger-Bewegung BBB, die konservativ-liberale VVP. Und eben die Mitte-Rechts-Partei Neuer Gesellschaftsvertrag (Nieuw Sociaal Contract, NSC) von Omtzigt, von der es zunächst hieß, sie wolle zwar nicht in eine rechtsgerichtete Koalition einsteigen, könne sich aber eine Duldung vorstellen.
Was rechnerisch vielleicht möglich wäre, scheitert aber ausgerechnet an der Person des Wahlsiegers. Regieren ja, aber nicht mit Wilders an der Spitze. Also dem Politiker, der einen Nexit (Ausstieg der Niederlande aus der EU nach Vorbild des Brexit) für eine gute Idee hält, der gern Moscheen schließen und einen „Asylstopp“ verhängen will, und auch sonst noch ein paar Ideen hat, die gegen die niederländische Verfassung verstoßen würden. Außerdem wollte er den Beitritt der Ukraine zur EU verhindern. Gründe also genug, um nach der Wahl die Befürchtung zu haben, dass sich damit in Europa einiges verändern könnte. Ob es nun so weit kommt, ist ungewiss. Denn zumindest ist inzwischen klar, dass Wilders kein Regierungschef wird.
„Die Niederlande zuerst“ ist Wilders Motto, getreu seinem großen Vorbild Donald Trump. Nun verzichte er auf den Ministerpräsidentenposten, weil er das Land liebe und eben die Niederlande zuerst kämen, verkündete Wilders Mitte März. Die potenziellen Koalitionspartner haben ihn offenbar zu diesem Verzicht gedrängt. Allerdings zahlen alle den Tribut dafür. Denn gleichzeitig erklärten die Vorsitzenden der anderen möglichen Regierungspartner, ihre künftige Arbeit im Parlament zu machen, heißt also: nicht auf die Regierungsbank zu wechseln.
Eckpunkte statt Koalitionsvertrag
Ein einigermaßen erstaunlicher Vorgang. Ebenso wie die derzeitige Absicht, möglicherweise eine „außerparlamentarische Regierung“ zu bilden. Also eine Regierung, der Experten angehören, und möglicherweise auch Politiker anderer Parteien. Und die vier Parteien, die jetzt weiter verhandeln, würden keinen bis ins Detail ausformulierten Koalitionsvertrag vereinbaren, sondern lediglich große Eckpunkte für die Regierungsarbeit. Für konkrete Vorhaben müssten dann jeweils im Zweifel auch wechselnde Mehrheiten gefunden werden. Die Idee dazu soll Pieter Omtzigt gehabt haben.
Zwar hat Wilders Wahlsieg die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, der eigentlich erstaunlichere Mann schon vor der Wahl ist aber jener Pieter Omtzigt.
Der 49-Jährige ist ein erfahrener Politiker, war lange in der christlichen CDA, die er 2021 im Streit verließ. Kein neues Gesicht also, und doch in gewisser Weise ein neuer Mann, jedenfalls mit neuen Ideen. Erst drei Monate vor der Wahl gründete er eine neue Partei, die schon mit ihrem Namen ein klares Signal setzt: Nieuw Sociaal Contract (NSC), also Neuer Gesellschaftsvertrag. Und die kam auf Anhieb auf 20 Mandate. Eine politische Kraft, an der die anderen kaum mehr vorbeikommen.
Das Programm des NSC ist stark an der politischen Mitte ausgerichtet, aber mit einigen Ansätzen, die sie nicht nur nach rechts, sondern auch nach links anschlussfähig macht. Vor allem aber setzt Omtzigt darauf, verlorenes Vertrauen der Bürger in den Staat zurückzugewinnen. Behörden müssten wieder für die Bürger arbeiten, heißt es da beispielweise.
Die ersten Koalitionsverhandlungen hatte Omtzigt im Februar scheitern lassen. Offiziell begründete er das mit den Staatsfinanzen, was viele aber für vorgeschoben hielten. Das Verhältnis zu Wilders dürfte nicht das beste sein. Omtzigt hatte schon früh als Bedingung, überhaupt Gespräche über eine Zusammenarbeit zu führen, an die Forderung geknüpft, Wilders müsse sich an internationale Verträge und Entscheidungen von Gerichten halten. Einigermaßen bemerkenswert, dass man diese Bedingungen überhaupt explizit formulieren muss. Aber in Sachen Wilders und PVV (Partij Voor de Vrijheid) verhält sich vieles anders als bei normalen Parteien. So hat die Partei eigentlich nur ein Mitglied: Geert Wilders. Die Kandidaten für die Wahlliste sind folglich sozusagen handverlesen. Sein Einfluss aus der stärksten Fraktion heraus wird also gewichtig bleiben. So kündigte er mit seinem Rückzug zugleich an: „Ich hätte gerne ein rechtes Kabinett. Weniger Asyl und Einwanderung. Die Niederländer zuerst“.
Noch ist längst nicht ausgemacht, ob es zum Modell einer „außerparlamentarischen Regierung“ kommt. Regierungsbildungen in den Niederlanden sind nicht nur ein langwieriger Prozess, sie können auch mit Überraschungen enden.