Der schnellste Gletscher der Nordhalbkugel ist der Sermeq Kujalleq in Grönland. Rund 100 Millionen Tonnen Eis kalbt er in den Kangia-Fjord – Tag für Tag. Der Klimawandel trägt seinen Teil dazu bei. Ein Besuch bei Fischern und Jägern in Ilulissat.
Das Lesen und Rechnen in der Schule war nicht so seine Sache, aber auf dem Fjord ist Sune Jerimiassen, 25, virtuos. Die Winde rotiert, die Leine saust, flache Fischleiber tauchen an der Wasseroberfläche auf. Sune greift nach den Fischen – einige Seewölfe, viel Kabeljau, vor allem aber Schwarzer Heilbutt – und reißt ihnen den Haken aus dem Maul, bevor er sie hinter sich in einen Bottich wirft. Es geht so schnell wie bei einem Hütchenspieler. Es bleibt ein Rätsel, wie Sune es schafft, dass ihm bei der stundenlangen, rasanten Arbeit an der Winde niemals einer der Haken durch den Handschuh in den Finger fährt.
Henrik, 14, Sunes kleiner Bruder, kommt kaum nach mit dem Herausschneiden des Gekröses. Für das großartige Panorama hat er keinen Blick: Die Jolle liegt am Ausgang des Kangia-Eisfjords, in dem das Eis des Gletschers Sermeq Kujalleq jede Stunde für immer neue Schauspiele sorgt. Jeder zweite Tourist, der nach Grönland reist, fliegt des Eisfjords wegen nach Illulissat, dem Heimathafen von Sune und Henrik am Ausgang des Fjords. Manche Eisberge liegen flach und lang im Wasser wie eine Festtagstafel, manche recken sich spitz wie das Matterhorn, einige haben Karieslöcher, ausgenagt von Schmelzwasserströmen, groß wie der Triumphbogen in Paris. Könnte man die einzelnen Eisberge an Land hieven, wären manche von ihnen so hoch wie Gipfel deutscher Mittelgebirge – 900 Meter. Obwohl 90 Prozent der Klötze unter dem Wasser verborgen sind, ragen sie so weit aus dem Meer wie die Elbphilharmonie über den Hamburger Hafen.
Die Front des Gletschers liegt 55 Kilometer im Inneren des Fjords, eine sieben Kilometer lange Wand. Unter Krachen und Knallen kalbt der Sermeq Kujalleq sein Eis in den Fjord. Der Druck des bis zu drei Kilometer mächtigen Inlandeises schiebt ihn mit 40 Metern pro Tag in den Fjord hinein. Kein anderer Eisstrom auf der Nordhalbkugel ist derart schnell.
So hört es der Besucher im Eisfjordcenter, dem neuen Besucherzentrum, von der dänischen Stararchitektin Dorte Mandrup entworfen und eingerichtet, um auf sinnliche Weise zu Natur, Kultur und Wirtschaft in Ilulissat zu informieren. Erst im Juli 2021 eröffnet gilt das neue Zentrum vielen Grönländern bereits als schönstes Gebäude des Landes: Wie ein sorgfältig handgearbeiteter Bumerang liegt der dreikantige Glaspavillon flach am Rand des Unesco-Weltnaturerbes Kangia. Durch die Panoramafenster fällt der Blick auf die Tundra und dahinter auf die Eisberge in den Fanggründen der Fischer.
Gletscher kalbt Eis in den Fjord
Rund die Hälfte des grönländischen Staatshaushalts sind Subventionen aus Dänemark. Das Geld, das Grönland mit Exporten selbst verdient, kommt fast ausschließlich aus der Fischerei. Dementsprechend zeigt das Wappen der Kommune Avanaata, zu der Ilulissat gehört, neben vier Schlittenhunden einen Schwarzen Heilbutt. In dieser riesigen Verwaltungseinheit, die den ganzen Nordwesten Grönlands umfasst und größer ist als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen, leben 10.700 Menschen. Ganz Grönland hat nur 58.000 Einwohner und 27.000 Beschäftigte. Rund 1.000 davon kurven täglich mit ihren Nussschalen zwischen den Eisbergen auf Plattfischfang. Das Zentrum der Langleinenfischerei ist Ilulissat – das grönländische Wort bedeutet so viel wie „Eisberge“.
Ilulissat ist die drittgrößte Stadt Grönlands mit 4.670 Einwohnern in bunten Holzhäusern und Wohnblocks – und mit 3.108 Hunden. Auf dem Stadtplan von Ilulissat gibt es rund um die bebauten Areale schraffierte Flächen, das sind die Hundeplätze, wo die Fischer und Fänger ihre Arbeitstiere auf Brachflächen halten. Im Winter bleiben die Jollen im felsumkränzten Hafen, dann fahren die Fischer mit dem Hundeschlitten zum Eisfischen auf das Meereis.
Auch wenn die Verbraucher in Deutschland nicht wissen können, ob das Filet auf ihrem Teller durch Sunes Hände gegangen ist, haben sie wohl schon Fotos seines Arbeitsplatzes gesehen. Im Sommer 2007 gingen die Bilder um die Welt, wie die damalige „Klimakanzlerin“ im roten Anorak durch den Kangia-Fjord geschippert wurde. „Hier wird der Klimawandel sichtbar, ja fassbar“, sagte Angela Merkel seinerzeit. „Wir müssen vorangehen, um aufzuhalten, was die Menschheit zur Erderwärmung beiträgt.“ In den Jahren seit Merkels Besuch hat der Sermeq Kujalleq seine Geschwindigkeit verdoppelt, was Wissenschaftler als Zeichen für die Klimaerwärmung werten.
Der Gletscher kalbt im Jahr 40 bis 50 Kubikkilometer Eis in den Fjord – das sind Tag für Tag 100 bis 126 Millionen Tonnen. Zehn Prozent aller Eisberge in Grönland entlässt der Sermeq Kujalleq ins Meer. Die größten brauchen zwei bis drei Jahre, bis sie abgeschmolzen sind. Sie gelangen weit, manche bis vor Irland und Neufundland. Wahrscheinlich stieß auch die „Titanic“ mit einem Eisberg zusammen, der seine Reise im Kangia-Fjord begonnen hatte.
So liest man es in der Ausstellung des Eisfjordzentrums. Dessen Gestalt sei von „den Schwingen einer Schneeeule beim Flug über das Fjell“ inspiriert, sagt Architektin Mandrup. 20 Millionen Euro kostete das Haus, das hauptsächlich von dem gemeinnützigen Verein Realdania finanziert wurde, und die Grönländer sind stolz darauf. 5.000 Besucher kamen seit der Eröffnung: Kreuzfahrttouristen, Bürger von Ilulissat, internationale Wissenschaftler. Schon haben sich die ersten Einheimischen auf dem begehbaren Dach in ihrer Nationaltracht trauen lassen, die Braut in hohen Fellstiefeln und im glasperlenbesetzten roten Oberteil, der Bräutigam im schlichten blauen Anorak.
Geschichte im Eis konserviert
Der erste Eindruck ist ein Vorraum voller Wanderstiefel. „Betritt man in Grönland ein Haus, zieht man die Schuhe aus“, sagt Leiterin Elisabeth Momme. „Das ist auch im Besucherzentrum Pflicht. Für die Einheimischen ist das selbstverständlich und die Touristen wundern sich nur kurz.“ In Socken über das Parkett zu gehen, erziele die gewünschte Wirkung: „Man fühlt sich heimelig, entspannt und nimmt sich Zeit für die Ausstellung“, sagt Momme. Die ist eine Art Wunderkammer und besteht hauptsächlich aus handgeblasenen Glasskulpturen, die Eisbergen nachempfunden sind. In ihnen sind einige Objekte eingeschmolzen: ein Walrosszahn, eine Harpunenspitze aus Rentiergeweih, Treibholz aus dem Eis, zweieinhalb Millionen Jahre alt. In Folianten vor den Fenstern zur Tundra finden sich dann die gut aufbereiteten Informationen dazu.
Das Herz der Ausstellung sind gekühlte Kerne von Bohrungen aus dem Inlandeis. In ihnen lässt sich die Klimageschichte der Vergangenheit lesen. Denn die Zusammensetzung der Sauerstoff-Isotope im bis zu 3.000 Meter mächtigen Eisschild hängt mit der Temperatur zusammen, die in der Atmosphäre herrschte, als der Schnee fiel, bevor er durch immer neue Lagen Schnees langsam zu Eis verdichtet wurde. Aber auch die Geschichte der Menschheit spiegelt sich im Eis wider. Beispielsweise findet sich in den Lagen, die sich um die Zeitenwende bis zum Jahr 180 nach Christus bildeten, eine erhöhte Konzentration an Blei und Silber: In der „Pax Romana“, der stabilsten Phase des römischen Reiches, baute man Erze dieser Metalle in größerem Stil ab und schmolz sie ein. Viele Partikel gelangten dabei in die Atmosphäre: Es ist das erste Zeichen von menschlicher Umweltverschmutzung, das sich im Inlandeis lesen lässt. Dagegen kann man in den obersten Lagen des Eises beobachten, dass Umweltschutz wirkt: Die Bleikonzentration ist seit 1970, als US-Präsident Nixon das Gesetz „Clean Air Act“ unterschrieb, gesunken.
Fischpopulation steigt an
Mehr als über Schwermetalle machen sich die einheimischen Fischer und Jäger Sorgen über die Erwärmung. Sie sind vom Klimawandel direkt betroffen: Zwar fahren sie immer noch wie ihre Vorfahren vor Hunderten von Jahren im Winter mit dem Hundeschlitten zum Eisfischen aufs Meereis. Vor 20 Jahren war dies aber noch bis Ende Mai möglich. Nun müssen sie in manchen Jahren schon rund zwei Monate früher aufgeben.
Sune, der junge Fischer, hat keine Hunde mehr wie die Alten. Die Haltung der Tiere sei ihm zu beschwerlich, sagt er. Im Winter geht er in der Diskobucht vom Boot aus auf die Jagd. Das Erlegen von Rentieren, Moschusochsen und Schneehühnern an Land und Robben und Walen auf See ist Grundlage der grönländischen Kultur: In jedem Supermarkt kann man Gewehre und Patronen kaufen – und Walfleisch. Vielleicht ist die Jagd auf die Meeressäugetiere heute auch deshalb nicht verpönt, weil sie streng durch staatliche Quoten reglementiert ist.
Als Sune und sein Bruder nach vier Stunden im kalten Fahrtwind zurück in den Hafen kommen, haben sie 500 Kilogramm Schwarzen Heilbutts an Bord. Ein Kran hebt den Fang auf den Kai der Fischfabrik, in der er für den Export verarbeitet wird. Wie dieser Fischreichtum zu erklären ist, erfahren die Besucher ebenfalls im Eisfjordzentrum: Die schmelzenden Eisberge schaffen Turbulenzen und bringen nährstoffhaltiges Wasser aus der Tiefe an die Oberfläche. Im Frühling dringt das Sonnenlicht durch das dünner werdende Meereis und darunter blühen dann Algen auf. Ruderfußkrebse und Krill weiden sich daran in unermesslicher Zahl und machen den Fjord zu einem wahren Bankett für die Fische. Sehr zur Freude von Sune und seinen Kollegen, aber auch zur Freude der deutschen Verbraucher: Im Supermarkt kosten die „Filets vom Schwarzen Heilbutt, praktisch grätenfrei“, 7,99 Euro in der 360-Gramm-Packung.