Im Zuge ihrer Geschichte musste die NATO ihre Strategien und ihr Selbstverständnis immer wieder dem sich wandelnden sicherheitspolitischen Umfeld anpassen. Angesichts des Ukraine-Kriegs ist die Allianz zwangsläufig wieder zu ihrer ursprünglichen Gemeinsamkeit eines Verteidigungsbündnisses gegen Russland zurückgekehrt.
Was Karl Marx ziemlich genau 100 Jahre zu früh in seinem „Manifest der Kommunistischen Partei“ als Fanal beschrieben hatte – „Ein Gespenst geht um in Europa; das Gespenst des Kommunismus“ – hatte sich nach Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Aufstieg der Sowjetunion zu einer der beiden großen Militärmächte der Welt sowie der scheinbar unaufhaltsamen Ausweitung der sowjetischen Einflusszonen in Ost- und Mitteleuropa zu einer realen Gefahr entwickelt. Spätestens nach der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei durch den sogenannten Februar-Umsturz 1948 und der zunehmenden Eskalation der Lage in der vormaligen deutschen Hauptstadt, was schließlich ab Juni 1948 zur Berlin-Blockade führte, breitete sich in vielen Staaten Europas die nackte Angst vor einer potenziellen sowjetischen Aggression aus.
Ein erster Schritt Richtung solidarischer Sicherheit war daher der Abschluss des Brüsseler Paktes am 17. März 1948, in dem die fünf Partnerländer Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland eine gegenseitige militärische Beistandsverpflichtung für den Fall eines Angriffs auf eine der Vertragsparteien beschlossen. Allen Beteiligten dürfte allerdings klar gewesen sein, dass ein solches Verteidigungsbündnis ohne eine Einbeziehung der USA die Sowjetunion kaum beeindrucken konnte.
Geschichte der NATO in vier Phasen
Allerdings konnten die besagten europäischen Staaten davon ausgehen, dass sie bei den USA offene Ohren für einen gemeinsamen militärischen Beistandspakt finden würden. Spätestens seit der sogenannten Truman-Doktrin vom März 1947, einer der ideologisch-politischen Wegmarken des aufziehenden Kalten Krieges, hatten sich die Vereinigten Staaten von Amerika den Schutz der „freien Völker“ vor jeglicher kommunistischen Expansion auf die Fahne geschrieben. Die im Juli 1948 aufgenommenen transatlantischen Verhandlungen führten am 4. April 1949 in Washington zur Unterzeichnung eines völkerrechtlichen Vertrags namens Nordatlantikvertrag oder Nordatlantikpakt als Basis für die Gründung der North Atlantic Treaty Organization (NATO).
Dabei handelte es sich um eine ausschließliche Defensiv-Allianz. Neben Kanada und den USA verpflichteten sich zehn europäische Staaten – Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal – unter Berufung auf eine Wertegemeinschaft freier demokratischer Staaten und auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der UN-Charta zu einer gemeinsamen militärischen Verteidigung sowie gegenseitigem Beistand bei einem bewaffneten Angriff auf eines oder mehrere Mitglieder. Die Laufzeit des Vertrages war zunächst auf 20 Jahre begrenzt, wurde aber 1969 auf unbestimmte Zeit verlängert. 1952 kamen mit Griechenland und der Türkei die ersten beiden neuen Mitglieder hinzu.
Als drei Jahre später die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der sogenannten Pariser Verträge, mit denen das Besatzungsstatut in Westdeutschland beendet wurde, der NATO beitrat, hatte die Sowjetunion längst ihre Planungen für die Etablierung des Warschauer Pakts vorangetrieben und wenige Tage danach Mitte Mai 1955 den militärischen Gegenpart mit sieben weiteren Staaten an ihrer Seite ins Leben gerufen.
Bis zum Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs erhielt die NATO mit Spanien 1982 nur noch ein neues Mitglied. Erst 1999 schlossen sich mit Polen, Tschechien und Ungarn drei ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts als Mitglieder 17, 18 und 19 an. Ob es für diese erste Osterweiterung der NATO Absprachen mit Russland vor allem im Zuge der Zwei-plus-Vier-Gespräche im Jahr 1990 über die Zukunft Deutschlands gab, ist in Historikerkreisen umstritten. Der Wegfall einer breiten Pufferzone, was 2004 durch den Beitritt der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen an der Seite von Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Slowenien befördert wurde, wird jedenfalls von Putins Russland bis heute beklagt. Mit der Aufnahme Albaniens und Griechenlands 2009, Montenegros 2017, Nordmazedoniens 2020 sowie Finnlands und Schwedens 2023 und 2024 ist die NATO inzwischen auf 32 Mitglieder angewachsen.
Gemeinhin wird die Geschichte der NATO in vier Phasen samt diversen Strategiewechseln unterteilt. In der ersten Phase von 1949 bis 1989 entwickelte sich das Bündnis im Zeichen des Ost-West-Konflikts vor allem zu einem Instrument der Verteidigung gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt. Bis zum Ende des Kalten Krieges war die NATO-Strategie gänzlich auf die Eindämmung des Sowjetkommunismus ausgerichtet, vor allem gestützt auf verschiedentlich geänderten militärisch-nuklearen Abschreckungskonzepten. Die Alternative eines sogenannten Rollback, eines Zurückdrängens der Sowjetunion aus ihren Satellitenstaaten, war zwar kurzzeitig Mitte der 1950er-Jahre in den USA diskutiert, aber angesichts einer dafür notwendigen kriegerischen Konfrontation nie ernsthaft in Erwägung gezogen worden.
Nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO wurde Deutschland Frontstaat und potenzieller Hauptbetroffener einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Militärblöcken. Aus diesem Grund stationierte die USA eine Vielzahl von Kernwaffen auf westdeutschem Boden.
Abschreckung und zugleich Verhandlung
Auf Basis des „Strategischen Konzepts zur Verteidigung des Nordatlantikraums“ von 1950 wurden nacheinander die Maßnahmen der „Vorneverteidigung“ (1952), mit der ein sowjetischer Angriff so früh wie möglich gestoppt werden sollte, der „Massiven Vergeltung“ (1957), mit der ein sowjetischer Truppenvorstoß sofort mit einem atomaren Gegenschlag beantwortet werden sollte, sowie der „Sensiblen Erwiderung“ (1968) beschlossen. Bei Letzterer hielt man sich ein breites Spektrum von Antwortmöglichkeiten auf einen sowjetischen Angriff offen.
In die Sicherheitsstrategie der Flexible Response hatte auch der sogenannte Harmel-Bericht Eingang gefunden, wonach die NATO künftig im Umgang mit dem Warschauer Pakt neben der Abschreckung auch eine Politik der Entspannung versuchen sollte. Der umstrittene NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979 beinhaltete daher nicht nur die Aufstellung von Mittelstrecken-Raketen und Marschflugkörpern in Westeuropa, sondern verlangte auch die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den beiden Supermächten über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenwaffen. Tatsächlich führte dies später zum Abschluss nuklearer Abrüstungsverträge.
Mit dem Mauerfall 1989 und dem Wegfall der für ihre Konstituierung maßgeblichen Bedrohung wurde in der zweiten Phase der Allianz-Geschichte (1989 bis 1999) zwangsläufig die Frage nach einem Fortbestand aufgeworfen. Das Bündnis, das bis dahin noch nie eigene Truppen zu einem realen Einsatz entsendet hatte, musste sich quasi neu erfinden. In ihrem 1991 verabschiedeten „The Alliance’s New Strategic Concept“ weitete es daher den Fokus auch auf nicht-traditionelle Sicherheitsmissionen wie Krisenprävention oder Krisenmanagement aus. Wegen des Zerfalls von Jugoslawien standen bald schon die ersten sogenannten Out-of-area-Einsätze der NATO in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo an. Das Bündnis unternahm zur Beendigung des Kosovo-Krieges 1999 sogar Luftangriffe gegen Serbien – trotz fehlendem UN-Mandat und somit ohne völkerrechtliche Absegnung. Mindestens ebenso heikel, da ganz erheblich russische Sicherheitsinteressen tangierend, war die Aufgabe, das Drängen neuer Demokratien in Osteuropa zur Aufnahme umzusetzen.
Zu ihrem 50. Jahrestag verabschiedete die NATO 1999 ihre dritte Strategie-Konzeption, „The Alliance’s Strategic Concept“. Die NATO begann sich nun in einer dritten Phase, die bis 2014 datiert werden kann, zu einem globalen Sicherheitsakteur zu entwickeln. Sie kümmerte sich nun auch um die Stabilisierung von Krisenregionen fernab der eigenen Bündnisgrenzen. Die Anschläge vom 11. September 2001 lösten zum ersten Mal in der NATO-Historie den Bündnisfall aus und verpflichteten alle Mitglieder zur Solidarität mit den von Terroristen angegriffenen USA. Daraus folgte ein insgesamt 20 Jahre dauerndes militärisches Engagement der NATO zum Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan, zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Stichwort „Operation Enduring Freedom“, zur Stabilisierung Afghanistans sowie zur Ertüchtigung afghanischer Sicherheitskräfte.
Abkehr von der Idee der Weltpolizei
Kurz vor dem militärischen Eingreifen der NATO in Libyen, wo zwar der Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi, aber keine dauerhafte Befriedung des Landes erreicht wurde, änderte die Allianz im Jahr 2010 im „Strategic Concept for the Defence and Security of the Members of the North Atlantic Treaty Organisation“ zum vierten Mal ihre Strategie. Im Rahmen einer forcierten kooperativen Sicherheit rückte sie den Willen zu einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit Russland in den Mittelpunkt künftiger Aktivitäten. Was angesichts von Russlands im Kaukasuskrieg 2008 gegen Georgien demonstrierter expansionistischer Machtpolitik etwas verwunderlich war.
Eine Kooperation mit Russland war allerdings nach dessen völkerrechtswidriger Annexion der Krim 2014 obsolet geworden. Wenn man so möchte, wurde damit das vierte Zeitalter der NATO-Historie eingeleitet, das mit der russischen Invasion der Ukraine ab dem Februar 2022 mit einer strategischen Kehrt- und Zeitenwende beantwortet werden musste. Mit dem „NATO 2022 Strategic Concept“ verabschiedete sich die Allianz erst einmal wieder ganz von der Idee als internationalem Krisenmanager und Weltpolizisten. Stattdessen kehrt die NATO damit wieder zu ihren Anfängen zurück. Im Mittelpunkt stehen nun wieder der Schutz ihrer Mitglieder vor einem russischen Angriff, die klassische Territorialverteidigung sowie die Aufgabe, das Sicherheitsversprechen für alle Bündnisstaaten mit glaubwürdigen militärischen Fähigkeiten zu untermauern.