Wohin steuert die NATO? Das Bündnis muss sich weiterentwickeln, um daraus erwachsende Bedrohungen entschieden und anpassungsfähig abfedern zu können. Notfalls auch ohne die USA.
Jubiläumslaune im Brüsseler NATO-Hauptquartier zum 75. Geburtstag des Nordatlantikpaktes? Eher nicht. Vielmehr herrscht dieser Tage konzentriertes Schaffen bei den rund 4.000 Vollzeitkräften an der Avenue Leopold III, die das am 4. April 1949 gegründete Militärbündnis am Laufen halten. Die angespannte Stimmung herrscht seit dem 24. Februar 2022. Das war der Tag des völkerrechtswidrigen russischen Einmarsches in die Ukraine – ein Epochenbruch. Seitdem ist allen 32 Allianznationen klar, dass Präsident Wladimir Putin sie testen will. „Nach Jahrzehnten des Friedens ist die imperiale Herrschaftspolitik zurückgekommen“, beschrieb Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) die Lage kürzlich auf einer Sicherheitstagung.
Die gekippte Stimmung war auch beim 60. Geburtstag der Münchner Sicherheitskonferenz (MSK) spürbar. Für rund 50 Staats- und Regierungschefs, 60 Außenminister und 25 Verteidigungsminister gab es im Hotel „Bayerischer Hof“ nur ein Thema: Russland. Während Repräsentanten der Föderation früher zu den begehrtesten MSK-Gästen gehörten, waren sie dieses Mal beim weltweit führenden Forum für internationale Sicherheitsrisiken nur als Elefant im Raum. „Wir reden über die größte Sicherheitsbedrohung auf unserem Kontinent, über einen Krieg hier in Europa“, warnte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede. Die Situation könne „globale Folgen“ haben. Das Wort „Weltkrieg“ fiel nicht. Gedacht wurde es aber schon.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg versuchte, den Korb etwas niedriger zu hängen. „Die NATO stellt weiterhin sicher, dass es in Moskau keinen Raum für Fehleinschätzungen hinsichtlich unserer Bereitschaft zum Schutz aller Verbündeten gibt“, sagte der oberste zivile Beamte und höchste Repräsentant des Bündnisses. Alle wussten, dass die North Atlantic Treaty Organization beweisen muss, ob sie ihren Zweck erfüllt: „Freiheit und Sicherheit ihrer Mitglieder zu garantieren“.
Wie das getan werden kann, bringt Ursula von der Leyen auf folgende Formel: „Wir müssen mehr in Rüstung investieren, wir müssen besser investieren und wir müssen europäisch investieren.“ Um das zu erreichen hat die EU-Kommissionspräsidentin eine neue EU-Sicherheitsstrategie ausarbeiten lassen. Sie kann als Antwort auf Liebesentzugs-Drohungen des womöglich erneuten US-Präsidenten Donald Trump verstanden werden.
In der NATO-Zentrale richten sich die Augen jetzt weit über Europas Grenzen hinaus – „360°-Blick“ heißt das in Brüssel. Schon 2002 hatte der damalige Bundesverteidigungsminister Peter Struck zum Afghanistan-Einsatz erklärt: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Manche belächelten das. Nun, 22 Jahre später, ist den meisten Struck-Kritikern das Schmunzeln vergangen. Gerade erst hat der schier explodierende Nahe Osten gezeigt, dass die Welt sich in den Unsicherheitsmodus gedreht hat. Fast alles hängt mit allem zusammen. Dass Israel nach der brutalen Massenmord-Orgie mit mehr als 1.400 meist bestialisch umgebrachten und 240 entführten Menschen die Hamas-Terroristen in Gaza jagt, hat mit dem Mullah-Regime im Iran zu tun. Es hat sich Stellvertreter geschaffen, um „Feinde Gottes“ anzugreifen. Die hochgerüstete Hisbollah-Miliz im Libanon steht bereit, Israel in einen Zwei-Fronten-Krieg zu verwickeln.
Kriege der Zukunft sind auch Antiterrorkampf
Dass der Iran die Freiheit und Sicherheit des Westens im Roten Meer gefährdet, beobachtet die NATO genau. Das Beschießen von Handelsschiffen – nur russische und chinesische Frachter bleiben verschont – bedeutet die faktische Sperrung des Suezkanals. Damit kappte die Huthi-Miliz die direkte Lebenslinie des Handels zwischen Europa und Asien .
Die Gewaltorgien im Nahen Osten zeigen, dass die NATO neue Gegner hat. Kriege der Zukunft werden auch ein Anti-Terrorkampf sein. Das bedeutet Abwehr hinterhältiger „Angriffe ohne Absender“ unter Missachtung jeglicher Regeln. Zum Repertoire solcher Kämpfer gehören Massaker ebenso wie das Durchtrennen von Unterseekabeln oder hybride Kriegführung im Cyberraum.
Zum NATO-Horizont gehört die hochrüstende Volksrepublik China. Das globale Handelsimperium krallt sich wie ein Drache ganze Einflusszonen im Indopazifik. Es ist ein Wettbewerber und systemischer Rivale, der auch ideologisch bis nach Lateinamerika und Afrika greift. Zugleich schwindet Europas Einfluss auf Gegenden mit dringend benötigten Rohstoffen. Auch Russland mischt dabei mit.
Das Bündnis muss sich weiterentwickeln, um daraus erwachsende Bedrohungen entschieden und anpassungsfähig abfedern zu können. Indessen wenden die USA als weitaus größter NATO-Partner ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr auf China. Europa wird aus nordamerikanischer Sicht zum Randgebiet. Umso wichtiger ist ein starker europäischer NATO-Pfeiler. Daran hapert es noch. Nicht jeder in Europa hat erkannt, dass militärischer Gleichschritt nur funktioniert, wenn das Ausschreiten eine gemeinsame Taktung hat.
Immerhin: Europa hat die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) geschaffen. Sie erlegt den EU-Mitgliedstaaten in Ergänzung zur NATO konkrete Zielsetzungen für Resilienz auf. Neue Bedeutung bekommt, dass NATO-Alliierte, die auch der EU angehören, nicht nur gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags zum Beistand verpflichtet sind, sondern auch nach Artikel 42.7 des EU-Vertrags. Die USA braucht man dazu nicht.
Trotz wachsenden europäischen Miteinanders: Niemand stellt die transatlantische Zusammenarbeit infrage. Gemeinsam arbeitet man diesseits des Atlantiks an der Einrichtung von NATO-„Durchmarschkorridoren“ von Portugal bis Polen und von Stockholm bis Sizilien. Eine Art „militärisches Schengen“ soll bislang übliche bürokratische Vorgänge beim Transportieren von Personal und Material eindampfen. „Interoperabilität“ heißt das Zauberwort für harmonisierte Standards beim Miteinander von Menschen, Technik und Munition.
Die Aufgaben, vor denen die NATO in ihrem Jubiläumsjahr liegt, sind enorm – sowohl politisch wie organisatorisch-logistisch und finanziell. Nun wird das Pensum des siebeneinhalb Jahrzehnte alten Bündnisses noch ein bisschen größer: Russland baut angeblich atomare Weltraumwaffen, die wichtige Kommunikationssatelliten im All ausschalten können. Die NATO-Sicherheit muss nicht nur am Hindukusch verteidigt werden, sondern bald wohl auch am Mond.