Zum Jubiläum der NATO gilt das Hauptinteresse der Schutzmacht USA noch mehr der Zukunftsregion Asien und der Bedrohung durch den Hauptrivalen China. Deshalb müssen die Europäer selbst Verantwortung für ihre Sicherheit übernehmen.
Mit Chinas Aufstieg geriet das gute alte Europa ins Hintertreffen und die Zukunftsregion Asien-Pazifik ins Zentrum amerikanischer Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen. Washington will in jedem Fall verhindern, dass ein möglicher Rivale den USA die See- oder Lufthoheit im eurasischen Raum streitig macht und wirtschaftliche Aktivitäten der USA unterbindet oder ihnen den Zugang zu Ressourcen verwehrt. Obwohl dies selten offen ausgesprochen worden ist, haben die Militäroperationen und diplomatischen Aktivitäten der USA in den vergangenen Dekaden genau dieses zentrale Ziel verfolgt.
Zwei-Fronten-Krieg wäre nicht zu gewinnen
US-Regierungen jeglichen parteipolitischen Couleurs haben es in der Vergangenheit nicht vermocht, die NATO gegen den Widerstand der Europäer zu globalisieren, sprich sie nach Asien zu orientieren. Die US-Regierung wird die Hauptverantwortung für die alte NATO nun den Europäern selbst überlassen – trotz der Bedrohung durch die „Regionalmacht“ Russland und des offensichtlichen Schutzbedürfnisses europäischer Regierungen.
Bereits heute wären die USA nicht mehr in der Lage, einen Zwei-Fronten-Krieg, also gegen Russland in Europa und gegen China in Asien, zu gewinnen. Das war schon 2019 die Befürchtung von amerikanischen Verteidigungsbeamten und Militäranalysten. In Planspielen der Rand Corporation, des größten und renommiertesten amerikanischen Think Tanks, in denen Großmachtkonflikte simuliert werden, wäre in einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Russland und China eine Niederlage für die USA vorprogrammiert.
Amerikas Abwendung von Europa und seine „Hinwendung nach Asien“ wurde schon von Donald Trumps demokratischem Vorgänger Barack Obama eingeläutet. Und Obamas damaliger Vizepräsident Joe Biden führt diesen Kurs nun umso entschiedener fort, um dem Rivalen China zu begegnen, der in Ostasien Washingtons Hegemonie herausfordert.
Chinas raumgreifende Aktivitäten beunruhigen vor allem seine regionalen Nachbarn und drängen diese zur Zusammenarbeit untereinander und mit der „Schutzmacht“ USA. Chinas aggressiveres Auftreten hat bereits dazu geführt, dass der Quadrilaterale Sicherheitsdialog (Quad) zwischen Australien, Indien, Japan und den USA reaktiviert wurde – ein bislang informelles Arrangement, das eingerichtet wurde, um dem wachsenden chinesischen Einfluss im Indischen Ozean und im Pazifik entgegenzuwirken.
Amerikas Anspruch, trotz zunehmend knapper werdender Ressourcen eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, dürfte die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen. Wer die Geschichte, das politische System der USA und die begrenzte Geduld der US-Bevölkerung, zumal für Kriege auf dem weit entfernten „Alten Kontinent“, kennt, hätte sich nicht der Illusion hingeben dürfen, dass die USA für Europa auf lange Sicht jene Sicherheitsleistungen erbringen würden, zu denen die meisten Europäer viele Jahre selbst nicht bereit waren, weil sie ihre „Friedensdividende“ lieber in Sozialleistungen investiert haben.
Unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen werden die USA ihre europäischen Verbündeten stärker in die Pflicht nehmen, mehr für ihre Landesverteidigung gegen ein revanchistisches Russland und den Wiederaufbau der Ukraine auszugeben. Unter einem möglichen Oberbefehlshaber Trump wären die NATO und das Schutzversprechen der USA gegenüber Europa nicht mehr viel wert. Die Europäer müssten umso mehr in ihre eigene Sicherheit investieren.
Doch es geht jetzt nicht darum, die häufig bemühten „zwei Prozent“ der Wirtschaftsleistung möglichst für amerikanische Militärgüter auszugeben, um eine durchaus denkbare US-Regierung unter Donald Trump zu beschwichtigen. Dies wäre genauso nachhaltig, wie auf Schutzgelderpressungen einzugehen. Vielmehr sollten die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich. Nur so können sie Erpressungsversuchen einer möglichen zweiten Trump-Regierung oder auch seitens der russischen Führung vorbeugen.
Angesichts der angespannten Haushaltslage in vielen europäischen Ländern wäre indes jeder Euro, der an Sozialleistungen (Butter) eingespart und für Rüstung (Kanonen) oder den Wiederaufbau der Ukraine investiert würde, eine weitere Stimme für jene extremistischen Parteien, die ohnehin schon wegen der Unfähigkeit der Politik, drängende Probleme zu lösen, an den Wahlurnen profitieren.
Europa muss endlich seine Interessen bündeln
Gemeinsame Schulden, um Europa militärisch zu ertüchtigen und den Wiederaufbau der Ukraine zu finanzieren, würden das „Butter versus Kanonen“-Dilemma entschärfen. Anstatt ihre durch die im Handel verdienten Währungsreserven und Ersparnisse weiterhin dafür zu verwenden, Amerikas Wirtschaft und Rüsten auf Pump zu finanzieren, könnten europäische Staaten und institutionelle Anleger ihre Kapitalreserven in den Euro sowie die ökonomische und militärische Ertüchtigung Europas investieren, um den Kontinent für den geoökonomischen Wettkampf zu wappnen. Nur der europäische Verbund gewährleistet Marktmacht und Handlungsoptionen, damit Europas Länder weiterhin selbstbestimmt wirtschaften und leben können.
Ein tiefer, liquider Markt sicherer EU-Anleihen, die angesichts der exorbitanten US-Staatsverschuldung internationalen Anlegern eine Möglichkeit zur Risiko-Diversifizierung böten, würde den Europäern auch andere Zukunftsinvestitionen – etwa in eigene digitale Infrastruktur – ermöglichen und wäre hilfreich, um den Euro zu einer globalen Leitwährung weiterzuentwickeln. Ein auf diese Weise gestärkter Euro würde der EU nicht nur wirtschaftliche Handlungsfähigkeit sichern, sondern auch die Möglichkeit einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Freilich sollte diese künftig nicht mehr wegen des Einstimmigkeitsprinzips von Einzelnen blockiert werden können. Eine an gemeinsamen Interessen orientierte effektivere Entscheidungsfindung ist unabdingbar. Denn bislang hat die Unfähigkeit der Europäer, über ihre souveränen Interessen gemeinsam nachzudenken und zusammenzuarbeiten, anderen Mächten die Möglichkeit gegeben, Europa zu spalten und zu schwächen. Erst ein umfassendes strategisches Verständnis ermöglicht es der EU, die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu bündeln und damit auch mehr wirtschaftliches und außenpolitisches Gewicht in einer „neuen“ bislang von den Interessen anderer bestimmten Weltordnung zu entfalten.