Zum 75. Jahrestag der Gründung der North Atlantic Treaty Organization steht diese vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. Der Krieg in der Ukraine und somit an den direkten NATO-Grenzen hat vor allem die Europäer wachgerüttelt. Zu spät?
Ein 75. Geburtstag ist normalerweise ein Grund, groß zu feiern. Am 4. April 1949 unterzeichneten in Washington die Außenminister der USA, Kanadas und der zehn europäischen Staaten Dänemark, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal den sogenannten Nordatlantikvertrag. Sie hoben damit die North Atlantic Treaty Organisation aus der Taufe – die NATO. Mit der Gründung dieses Verteidigungsbündnisses reagierten diese zwölf Staaten auf eine zunehmende Bedrohung der Sicherheit in Mitteleuropa durch die damalige Sowjetunion mit ihrem Machtzentrum in Moskau, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine immer aggressivere Interessenpolitik verfolgte.
Heute, 75 Jahre später, ist das Bündnis auf 32 Mitgliedstaaten angewachsen, und auch heute sehen sich vor allem die europäischen Staaten wie damals mit einer aggressiven Expansionspolitik seitens Moskaus konfrontiert. Mit dem Unterschied, dass Russland seit zwei Jahren tatsächlich einen Krieg innerhalb Europas führt – gegen die Ukraine. Am 3. und 4. April werden die Außenminister der heute 32 Mitgliedstaaten zu einer Feierstunde in Brüssel zusammenkommen. Erstmals dabei sein werden die Vertreter Finnlands und Schweden, die viele Jahrzehnte lang neutral waren und sich erst als direkte Folge des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine vor zwei Jahren als direkte Nachbarn des Aggressors um die Aufnahme in die NATO bemühten.
USA orientieren sich nach Asien
Ohne Zweifel wird beim Festakt in Brüssel auch gefeiert werden. Vielmehr wird es bei dem Treffen aber um die aktuellen Herausforderungen gehen und darum. wie insbesondere die europäischen Mitgliedstaaten künftig agieren wollen. Die Europäer haben sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 mehr als drei Jahrzehnte lang in Sicherheit gewiegt und geglaubt, es würde keinen Krieg mehr innerhalb Europas geben. Nationale Armeen wurden immer weiter verkleinert, die Wehrpflicht vielerorts abgeschafft, Investitionen in die eigene Verteidigung auf ein Minimum begrenzt. Alle mahnenden Stimmen, die einerseits vor einer wachsenden Gefahr seitens Russlands warnten, und die andererseits die Europäer zu mehr Eigenverantwortung bei der Verteidigung ermahnten, wurden lange in den Wind geschlagen.
Dabei waren Russlands Expansionsbestrebungen spätestens mit der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim vor inzwischen zehn Jahren deutlich zu erkennen. Und es war nicht erst Ex-US-Präsident Donald Trump, der die Europäer – und dabei insbesondere Deutschland – ermahnte, das Zwei-Prozent-Ziel der Ausgaben für Rüstung gemessen am Bruttoinlandsprodukt endlich umzusetzen. Allzulange haben sich die Europäer darauf verlassen, dass Amerika im Falle eines Angriffs auf ein NATO-Mitglied es schon militärisch richten würde und darüber die eigene Wehrfähigkeit und -tauglichkeit außer Acht gelassen.
Doch das Hauptaugenmerk der US-Amerikaner liegt nicht erst seit Donald Trumps Amtszeit als Präsident längst nicht mehr auf good old Europe. Das Erstarken Chinas zur globalen Macht stellt die Vereinigten Staaten vor ganz neue Herausforderungen. Die USA buhlen mit dem neuen Global Player um die Vormachtstellung im asiatischen Raum – nicht nur militärisch, sondern vor allem wirtschaftlich. Das militärische Säbelrasseln Chinas vor den Toren Taiwans ist auch ein Test für die Vereinigten Staaten, die sich als Unterstützer Taiwans sehen und das Land zur Verteidigung auch mit Waffen versorgen. Im Oktober 2021 sicherte US-Präsident Joe Biden Taiwan militärische Unterstützung im Falle eines Angriffs durch China zu.
Viele Experten sind sich allerdings einig, dass aber selbst die USA nicht in der Lage sind, einen Zwei-Fronten-Krieg zu führen. Beistandspflicht hin oder her. Aus diesem Grund sei es an der Zeit, dass sich die Europäer endlich selbst um ihre Verteidigung kümmern, betonen sie. Und zwar völlig unabhängig von einer Wiederwahl Donald Trumps ins Weiße Haus oder nicht. Dass die Amerikaner auch ohne Trump als Präsidenten nur bedingt Lust haben, Feuerwehr bei europäischen Konflikten zu spielen, zeigen die wiederkehrenden Blockaden im Kongress für dringend benötigte Mittel zur Unterstützung der Ukraine.
Um aber überhaupt auf absehbare Zeit eine gewichtigere Rolle zu spielen, müssen die Europäer sich vor allem selbst einig werden, was sie eigentlich wollen. Solange eigenstaatliche Interessen und Grabenkämpfe – siehe etwa die anfängliche Blockadehaltung Ungarns und der Türkei gegen einen Beitritt Schwedens – den Alltag bestimmen, stärke dies nur die Gegner und ermutige diese zu weiteren Schritten.
Neue Nukleare Abschreckung?
Die NATO hat also viele Baustellen in ihrem Jubiläumsjahr zu bewältigen. Eine davon ist die Neubesetzung der Führungsspitze. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, 65, hatte sein Amt eigentlich bereits im September 2022 abgeben wollen. Aufgrund des Ukrainekrieges wurde seine Amtszeit um ein Jahr bis September 2023 verlängert. Doch die Mitgliedstaaten konnten sich nicht auf einen Nachfolger einigen, sodass Stoltenberg nochmals ein Jahr dranhängte. Am 1. Oktober dieses Jahres soll nun endgültig Schluss sein. Noch ist nicht klar, wer ihm nachfolgen wird. Dem Niederländer Mark Rutte werden die größten Chancen eingeräumt, da er in der Allianz ein hohes Ansehen genießt. Eine Entscheidung soll spätestens zum Jubiläumsgipfel im Juli in Washington bekanntgegeben werden. Aber: Ohne das Okay des amerikanischen Präsidenten wird niemand NATO-Generalsekretär. Joe Biden immerhin scheint sich auch auf Rutte festgelegt zu haben.
Diese Baustelle und alle anderen Herausforderungen entschlossen anzugehen und ernsthaft zu diskutieren – ohne gedankliche Beschränkungen im Vorfeld – fordern entsprechend viele Experten. Für manchen beinhaltet dies auch eine seriöse Diskussion um mögliche neue nukleare Abschreckung. Zum Feiern ist dabei wohl den wenigsten zumute.