Nach dem Anschlag nahe Moskau zeigt Putin mit dem Finger auf die Ukraine
Der brutale Terroranschlag auf eine Konzerthalle nahe Moskau am vergangenen Freitag hat die ganze Welt erschüttert. Beileidsbekundungen von Washington bis Tokio trafen in der russischen Hauptstadt ein. Der länderübergreifende Moment des Innehaltens und der Trauer ist richtig und wichtig. Er unterstreicht, dass der internationale Terrorismus eine Geißel der Menschheit ist, die eigentlich durch gemeinsame Anstrengungen bekämpft werden müsste.
Erinnern wir uns: Nach den Terrorattacken am 11. September 2001 auf New York und Washington war es ausgerechnet der russische Präsident Wladimir Putin, der als erster Staatschef seinen amerikanischen Amtskollegen George W. Bush anrief und ihm seine Solidarität in der Kampagne gegen die Islamisten versicherte. Danach stellte Russland dem US-Militär seine zentralasiatischen Luftwaffenbasen für die Bombardierung von Stellungen des Al-Qaida-Netzwerks in Afghanistan zur Verfügung.
Von einem derartigen Schulterschluss sind wir heute Lichtjahre entfernt. Nach Einschätzung vieler Terrorexperten war der Anschlag bei Moskau das Werk von IS-Khorasan, einem in Afghanistan verwurzelten Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Das Bekennerschreiben des IS wurde auf sämtlichen Propaganda-Kanälen der Islamisten-Gruppierung veröffentlicht. Doch Putin sieht die Drahtzieher der Terrorattacke in der Ukraine. Belege hierfür liefert er nicht.
Die Warnungen der Amerikaner vor einem islamistischen Anschlag schlug der Kremlchef in den Wind. Die US-Botschaft in Moskau hatte am 7. März auf ihrer Website einen dringenden Sicherheitshinweis veröffentlicht, „wonach Extremisten unmittelbar bevorstehende Pläne haben, große Versammlungen in Moskau anzugreifen, darunter auch Konzerte“. Die Vereinigten Staaten hätten konkrete Geheimdienstinformationen über das hohe Risiko islamistischer Attacken in Moskau mit der russischen Regierung geteilt, betonte das Weiße Haus.
Putin tat dies jedoch als westliche „Propaganda“ ab, die Russland „destabilisieren“ wolle. Für den russischen Staatschef ist die Parallelität eines extrem aufwendigen Ukraine-Krieges und von islamistischen Terroranschlägen nicht ungefährlich. Er hatte sein Präsidentenamt 2000 mit dem Versprechen angetreten, nach den chaotischen Jelzin-Jahren für Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Zwei Krisenherde bergen für ihn die Gefahr des Kontrollverlusts. Deshalb zeigt er mit dem Finger auf die Ukraine.
Der Ukraine-Krieg ist für Putin nur ein Schauplatz einer großen Schlacht: Russland kämpft demnach gegen die Nato und die USA, die die Ukraine mit Waffen vollpumpten. Nach diesem Narrativ will der Westen Russland vernichten. Es ist eine krude Logik, in der alles, was Russland schadet, seinen Ursprung in der Ukraine hat, die Putin als „Nazi-Land“ etikettiert. Ein Terrorangriff im eigenen Land ist für Putin eine Attacke auf seine Legitimität als die Garantie-Instanz für Sicherheit.
Als Konsequenz wird der Kremlchef den Krieg gegen die Ukraine verschärfen. Er könnte es darauf anlegen, Europa und Amerika zu testen. So hat ein gegen den Westen der Ukraine gerichteter russischer Marschflugkörper in der Nacht zum Sonntag für rund 40 Sekunden den polnischen Luftraum verletzt. Zudem nahm das russische Militär die ukrainischen Großstädte Kiew und Charkiw sowie die Region Lwiw im Westen des Landes ins Visier.
In Russland werden die Repressionen nach dem Terroranschlag zunehmen. Denkbar sind innere Säuberungen. In Moskau wird bereits der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe laut. Auch könnte eine neue Teil-Mobilisierung für den Krieg gegen die Ukraine erwogen werden.
Die Protest-Aktionen bei der russischen Präsidentschaftswahl und die demonstrativen Trauer-Bekundungen am Grab des Regime-Kritikers Alexej Nawalny haben zwar gezeigt, dass es zumindest Reste von Widerstand im Land gibt. Dennoch steht die Mehrheit der Russen nach Umfragen des unabhängigen Lewada-Instituts hinter Putin. Der Präsident bekäme vermutlich erst dann Probleme, wenn es im Ukraine-Krieg ernsthafte Rückschläge gäbe und Russland von einer nicht mehr beherrschbaren Terrorwelle erschüttert würde. Auslöser wäre dann aber weniger die Bevölkerung als eine Revolte von innen: aus Kreisen von Militär, Geheimdiensten oder dem Sicherheitsapparat.