Drei Monate sind es noch bis zur Europawahl. Das eine große, übergreifende und vielleicht wahlentscheidende Thema ist nicht in Sicht. Zu unterschiedlich sind die Sorgen und Anliegen der Menschen in den 27 Mitgliedsstaaten.
Im politischen Betrieb ist die Nervosität längst greifbar. In weiten Teilen der Bevölkerung spielt dagegen kaum eine Rolle, dass Anfang Juni ein neues Europaparlament gewählt wird. Dass es dabei um Richtungsentscheidungen für das ziemlich einzigartige Projekt Europäische Union geht, ist zwar allenthalben zu lesen und zu hören, verfängt als große Überschrift aber kaum. Erstens, weil derartige Überschriften in allen Wahlkämpfen vorkommen; zweitens und vor allem: Die Menschen interessiert das Konkrete.
Klima, Krieg und Wirtschaftskrise
Einige große Institute und Think Tanks haben sich seit Jahresbeginn bemüht, herauszufinden, was die Themen sind, die den Bürgerinnen und Bürgern Europas besonders unter den Nägeln brennen und folglich für die Wahlentscheidung eine herausgehobene Rolle spielen könnten. Ein Ergebnis: Bei der Frage nach den wichtigen Themen zeigt sich Europa in großer Vielfalt. Das eine, alles überragende Thema gibt es für die Menschen in Europa nicht.
In der Regel bewerten die Menschen die Lage aus einer sehr länderspezifischen Sicht. In Griechenland hat man eine andere Agenda als in Schweden, und was aus der Sicht der Bürger eines Landes ein besonders drängendes Problem ist, ist andernorts unter Umständen eher ein Problem unter vielen anderen – wie es eben der konkreten Lebensrealität der Menschen vor Ort entspricht.
Eine Studie, die das besonders eindrucksvoll unterstreicht, haben Analysten des Think Tank European Council of Foreign Relations, kurz ECFR, Anfang des Jahres vorgelegt. Repräsentativ befragt wurden Menschen in elf europäischen Staaten, die etwa drei Viertel der EU-Bürger repräsentieren. Fünf große Themenfelder beziehungsweise Krisen, die die Menschen bewegen, kristallisieren sich dabei heraus, allerdings in sehr unterschiedlicher Gewichtung: Klima, Krieg, Migration, Wirtschaftskrise und Pandemie.
Für Überraschung in Deutschland (und Österreich) dürfte sorgen, dass das Thema Migration – außer in diesen beiden Ländern – ansonsten zwar auch als wichtig, aber keinesfalls als die Schicksalsfrage für die EU angesehen wird.
Spannend ist auch die Analyse, wonach das Thema Migration im Sinne von Zuwanderung insbesondere bei reicheren Ländern wie eben Deutschland, Österreich, aber auch den Niederlanden und Schweden eine wichtige Rolle spielt. In südeuropäischen Ländern hat man dagegen noch ein ganz anderes Problem. In Spanien oder Griechenland sorgt man sich beispielsweise um die Auswanderung, also den Wegzug von Menschen, die offensichtlich in ihren Ländern weniger gute Chancen sehen als woanders.
In den meisten europäischen Ländern ist die wirtschaftliche Entwicklung und Krise das bestimmende Thema. Insbesondere in Portugal und Italien, aber auch in Spanien, Griechenland und Ungarn beherrschen die wirtschaftlichen Krisen die politische Diskussion. In Deutschland spielt das erstaunlicherweise trotz der schwachen Wirtschaftsentwicklung und den globalen Abhängigkeiten im Hinblick auf die Europawahl nicht die herausragende Rolle.
Das dritte große Thema, nämlich Klimawandel, hat in anderen Ländern im Hinblick auf die Europawahl einen deutlich höheren Stellenwert als in Deutschland. In Dänemark und selbst in Frankreich wird dem Thema eine größere Rolle zugesprochen als in Deutschland.
Dass die russische Invasion in der Ukraine die Menschen in osteuropäischen Ländern ganz besonders bewegt, ist dagegen eher eine Bestätigung bisheriger Umfragen und damit wenig überraschend.
Eher überraschend ist dagegen, dass die Covid-Pandemie in einigen Ländern immer noch für die Menschen ein wichtiges Thema ist. Es sind die Länder, die am meisten unter der Pandemie gelitten hatten: Italien, Spanien, Portugal.
Einige Institute haben versucht zu erforschen, welche Themen im Wahlkampf erfolgversprechend zumindest im Sinne der Mobilisierung sein können. Naturgemäß sind das Themen, die polarisieren, wozu der Krieg in der Ukraine, Klima und Pandemie besonders gehören. Für wahlkämpfende europäische Parteienfamilien sind die Themen insofern schwierig, weil sie in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich bewertet werden. Für mehr Klimaschutz mag es in einem Land viel Zustimmung geben, in einem anderen dagegen Desinteresse oder gar Ablehnung.
Unterschiedliche Prioritäten
Und vollends kompliziert macht es die Tatsache, dass in den unterschiedlichen Altersgruppen die Präferenzen sehr differenziert sind. Bei Jüngeren steht Klimaschutz ganz oben, in älteren Gruppen die Themen Krieg und Migration. Die Pandemiepolitik der EU wird in einigen Ländern von der Bevölkerung als erfolgreich, in anderen dagegen überwiegend als das Gegenteil angesehen. Ähnlich unterschiedlich wird der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine bewertet. In Spanien beispielsweise, das geografisch am weitesten entfernt ist, spielt das Thema nur eine untergeordnete Rolle.
Beim Klimaschutz sind sich die politischen Analysten wiederum uneinig, wie am besten damit umzugehen sei. Die einen meinen, das Thema mobilisiere vor allem diejenigen, die Klimaschutzmaßnahmen eher bis komplett ablehnen, andere meinen, mit dem Hinweis auf die Anstrengungen und Investitionen des sogenannten Green Deal ließen sich Menschen überzeugen. Diese Differenzierungen machen es nach Überzeugung der Forscher vor allem etablierten (Volks-)Parteien schwierig, im Europawahlkampf die richtigen Themen zu setzen. Sie könnten „Schwierigkeiten haben, ihre Anhänger für die Europawahl zu begeistern“, da sie versuchen, Wähler anzusprechen, die von allen Krisen betroffen sind, meinen die Autoren der ECFR-Studie.
Das wiederum könnte eher populistischen Kräften in die Hände spielen. Letzte Umfragen scheinen diese These zu bestätigen. Aber auch dabei gibt es kein einheitliches Bild. Eine aktuelle Umfrage des IPSOS-Meinungsforschungsinstituts im Auftrag von Euronews mit parallel in EU-Mitgliedsstaaten durchgeführten Befragungen hat ergeben: Rechtspopulistische Parteien dürften zwar dazugewinnen, es dürfte aber keine große rechte Welle geben. Sozialdemokraten/Sozialisten sowie Liberale und Grüne müssten mit Verlusten rechnen, es würde aber weiter eine stabile Mehrheit rund um die politische Mitte geben. Eine Ausnahme gegen den allgemeinen Trend zeigt eine Sonderstudie zu nordischen Ländern: Dänemark, Schweden und Finnland könnten sozialdemokratische Hochburgen bei der Europawahl werden.
Für Deutschland ergibt sich (Stand Mitte März) eine Tendenz, wonach CDU, SPD und Grüne im Vergleich zur letzten Europawahl mit stabilen Ergebnissen oder sogar leichten Zugewinnen rechnen dürften, FDP und Linke stabil (eventuell Verluste), die AfD würde an Zustimmung verlieren. Die neue Partei von Sahra Wagenknecht (BSW) könnte mit einem Ergebnis zwischen fünf und sechs Prozent rechnen. Und weil es bei der Europawahl keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, dürften auch kleine Parteien wie ÖDP, Tierschutzpartei, Freie Wähler, Die Partei und möglicherweise noch andere eine Chance auf einen Sitz im Europaparlament haben. (Quelle: gewichteter Durchschnitt verschiedener Umfragen aus Februar und März 2024, DAWUM).