Das Festival „erLESEN! – Literaturtage im Saarland“ findet in diesem Jahr vom 12. bis 24. April statt. Zu den prominentesten Gästen zählt die Schriftstellerin Iris Wolff. Im FORUM-Interview spricht sie über ihren aktuellen Roman „Lichtungen“ und verrät, was sie an ihren Figuren besonders interessiert.
Frau Wolff, im Rahmen von erLESEN! sind Sie am 17. April zu Gast in Wadern und lesen aus „Lichtungen“, einer Liebes- und Freundschaftsgeschichte, verbunden mit der Geschichte Rumäniens. Bitte stellen Sie uns Lev und Kato, die beiden Hauptfiguren, vor.
Die beiden kennen einander seit Kindheitstagen und könnten gegensätzlicher nicht sein. Lev ist eher ein zögerlicher Mensch, für den jede Veränderung mit potenzieller Gefahr verknüpft ist. Kato versucht früh, der Enge ihres Elternhauses zu entkommen; sie trägt einen großen Freiheitswillen in sich, Malen wird ihr Zugang zur Welt. In diesen gegensätzlichen Bewegungen ihres Lebens – Bleiben und Gehen – begegnen sie sich, brauchen sie einander.
Sie erzählen die Geschichte der beiden rückwärts, beginnend von ihrem Wiedersehen in Zürich bis zu ihrer Kindheit im Norden Rumäniens. Warum haben Sie diese Erzählweise gewählt?
Ich habe Lev liegend im Bett kennengelernt, als Jungen. Und in dieser kleinen Welt war schon alles ein Stück weit enthalten. Recht schnell stand fest, sein Leben rückwärts zu erzählen, denn so begegnen wir einander ja auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen und wenn sich diese Begegnung verstetigt, dann erfährt man, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Schreibend war das natürlich eine Herausforderung. Nach und nach offenbart sich die Vergangenheit und somit Erlebnisse und Traumata, auf die sich das Handeln in der Gegenwart bezieht. Lev stellt sich als Erwachsener die Frage: Ist es möglich, sich ein Stück weit von der eigenen Vergangenheit zu befreien?
Auch Ihre vorherigen Romane, „Halber Stein“, „Die Unschärfe der Welt“ und „So tun, als ob es regnet“ spielen im Kontext der rumänischen Geschichte und lassen Erinnerungen an Ihre Heimat anklingen. Wie denken Sie an Ihre Kindheit zurück?
Voller Dankbarkeit. Ich bin auf einem Pfarrhof im Banat aufgewachsen und bei meinen Großeltern im siebenbürgischen Hermannstadt. Der Vielklang der Sprachen, die Verbundenheit mit der Landschaft und auch die Erfahrung des Verlusts schreiben bis heute an meinen Geschichten mit.
Mit acht Jahren wanderten Sie mit Ihrer Familie nach Deutschland aus. Auch Kato verlässt ihre Heimat. Ohne die Grenzöffnung wäre sie vielleicht mit Lev zusammengeblieben. Stellen Sie sich selbst manchmal die „Was-wäre-wenn-Frage“?
Ich glaube, jeder Mensch, dessen Biografie einen Knick aufweist, der in einem anderen Land aufgewachsen, umgezogen ist, Verlust erfahren hat, kennt diese Frage. Es ist, als ob ein Leben für einen vorgesehen war, und man fragt sich, wer man geworden wäre in jenem anderen Entwurf. Für mich als Schriftstellerin ist dies wie der Konjunktiv in der Sprache, die Möglichkeitsform – ich erfinde und finde Leben, die jenseits meines eigenen liegen.
Ihr Weg führte nicht nur nach Marburg, wo Sie Deutsche Sprache und Literatur, Religionswissenschaft sowie Grafik und Malerei studierten, sondern auch zur Schriftstellerei. Sie zählen gegenwärtig zu den erfolgreichsten Autorinnen in Deutschland, wurden seit Ihrem Debüt im Jahr 2012 mit zahlreichen hochkarätigen Literaturpreisen ausgezeichnet. „Lichtungen“ erschien Anfang 2024 und wird seither vom Feuilleton gefeiert. Was bedeutet Schreiben für Sie?
Alles. Schreiben ist, wie auch Lesen, eine Erweiterung der Welt. Mit jedem Buch wird die eigene Welt größer, weil wir – für die Dauer eine Geschichte, und manchmal auch darüber hinaus – die Welt durch die Augen eines anderen Menschen sehen. Schreiben ist eine Rebellion gegen die Zeit. Wir begreifen die Zeit meist in ihrer Linearität, dabei vergeht nichts wirklich, alles bleibt unabgeschlossen, ist miteinander verbunden. Schreibend kann ich diesen Verbindungen nachgehen.
Besonders gelobt wird Ihre Sprache. In Kritiken zu „Lichtungen“ wird sie unter anderem als unglaublich zärtlich, poetisch, präzise, mit melancholischem Grundton, bildstark, schwebend leicht, glasklar, direkt, unauffällig und unaufdringlich bezeichnet. Wie gelingt Ihnen dies alles zugleich?
Ich versuche möglichst wahrhaftig zu sein, nah dran an meinen Figuren. Ich möchte sie nicht von außen bewerten, deuten, psychologisieren, sondern ihr Erleben mit all seinen Widersprüchlichkeiten sinnlich schildern. Mich interessiert die Verletzlichkeit des Menschen, die Dunkelstellen und das, was im Menschen jenseits gesellschaftlicher und politischer Umstände unberührt bleibt. Ich glaube daran, dass das Sanftmütige, Durchlässige ebenso viel wert ist wie das Entschiedene, die Stille so viel wert ist wie das Sagen, das Beobachten, Wahrnehmen wie das Tun. Ich suche in der Sprache ein Gleichgewicht zwischen Präzision und Offenheit, zwischen Aussprechen und Andeuten.
Mehr als 50 Lesungen von „Lichtungen“ stehen in diesem Jahr auf Ihrem Terminplan. Bleibt da noch Zeit für Ihr nächstes Buch? Wovon wird es handeln?
Zwischen meinen Büchern liegen lange Schreibpausen. Diese Zeit ist jetzt Lev und Kato gewidmet, ich begleite sie ein Stück weit auf ihrem Weg. Der Kopf fängt natürlich schon an, neue Ideen zu sammeln.