In der Psychologie gibt es das Phänomen des sogenannten „posttraumatischen Wachstums“, frei nach dem Motto „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“. Nach einer schweren Krise berichten Menschen, dass sie sich psychisch gesünder und zufriedener als vor ihrem Schicksalsschlag fühlen. Dieser Effekt wurde in diversen Studien untersucht.
Blicke ich zurück, würde ich nicht eine Sache ändern“, sagt der ehemalige US-amerikanische Radrennfahrer Lance Armstrong. Er spricht nicht etwa über einen Etappensieg bei der Tour de France, auch nicht über das Doping, das ihn später die Karriere kostete. Er spricht über seinen Krebs. Im Herbst 1996 wurde bei ihm Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Der Tumor hatte schon in die Lunge und ins Gehirn gestreut. Es folgten etliche Operationen und eine kräftezehrende Chemotherapie. Trotzdem meint Armstrong: „Wäre ich nicht krank geworden, hätte ich nie meine Frau kennengelernt. Ich habe nicht das Gefühl, dass es Pech war, dass ich das durchmachen musste. Ich habe viel gelernt und bin in den letzten zwei Jahren enorm gewachsen“ – eine erstaunliche Bilanz.
Was uns nicht umbringt, mache uns stärker, meinte schon der Philosoph Friedrich Nietzsche. Doch stimmt das? Wachsen Menschen an schwierigen Erfahrungen? Entfesseln Krisen gar ungeahnte Kräfte? Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass ein gewisses Maß an Widrigkeiten abhärtet. Psychologen und Psychologinnen der University at Buffalo in New York und der University of California Irvine veröffentlichten 2010 eine Studie dazu. Für diese fragten sie mehr als 2.000 US-Amerikanerinnen und -Amerikaner nach ihren bisherigen Lebenserfahrungen. Die meisten Teilnehmer hatten bereits mindestens eine schwere Erfahrung gemacht, etwa eine schmerzhafte Trennung oder eine ernste Krankheit. Es stellte sich heraus, dass diejenigen, die in der Vergangenheit schwierige Zeiten durchlebt hatten, oft psychisch gesünder und zufriedener waren als jene acht Prozent der Befragten, die zuvor noch nie mit größeren Problemen konfrontiert waren. Wie spätere Interviews mit den gleichen Personen offenbarten, ließen sich die Unerfahrenen zudem in den Jahren darauf von negativen Ereignissen stärker erschüttern als die Krisenerprobten.
Psychisch besser gewappnet
Menschen, die schon erfolgreich Widrigkeiten bewältigt haben, sind möglicherweise für zukünftige Probleme psychisch besser gewappnet. Ein Quell ihrer Stärke ist wahrscheinlich die Überzeugung, sich nach einem erneuten Rückschlag wieder aufrappeln zu können. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Vorstellung, dass Probleme lösbar sind, sind wichtige Elemente der Resilienz, wie Fachleute die psychische Widerstandskraft nennen.
Allerdings gibt es gute Gründe, Nietzsche zu widersprechen: Lebenserfahrungen, die unsere Fähigkeit zur Bewältigung übersteigen, haben zweifellos negative Auswirkungen auf die körperliche und psychische Gesundheit und machen anfälliger für verschiedenste Krankheiten. Auch die besagte Studie aus den USA bestätigte diese Erkenntnis: Positive Effekte fanden sich nur bis zu einer gewissen Belastungsgrenze. Solchen Probanden, die in ihrem Leben besonders viele oder schwere Rückschläge hinnehmen mussten, ging es deutlich schlechter als jenen, die behütet aufgewachsen waren oder nur mäßige Härten erlebt hatten.
Umso erstaunlicher, dass es immer wieder Menschen wie Lance Armstrong gibt, die im Rückblick ihre schrecklichsten Erfahrungen nicht nur als Verlust, sondern auch als Bereicherung sehen. In den 1990er-Jahren stießen mehrere Forscherteams unabhängig voneinander auf solche Berichte. Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun, US-amerikanische Psychologen von der University of North Carolina at Charlotte, tauften das Phänomen damals „posttraumatisches Wachstum“. Menschen mit unterschiedlichsten Verlusterfahrungen glauben, dass sie durch die Auseinandersetzung mit dem Erlebten ein tieferes Verständnis von sich selbst und dem Leben im Ganzen gewonnen haben.
Bei diesen Erfahrungen handelt es sich nicht etwa um kleine Rückschläge, sondern um Erlebnisse, die so schwerwiegend sind, dass sie in der Psychologie als Trauma gelten. Zu den potenziell traumatischen Ereignissen gehören zum Beispiel gewaltsame Übergriffe, Vergewaltigungen, Entführungen, Geiselnahmen, Krieg oder Folter. Aber auch schwere Autounfälle, risikoreiche Geburten oder der Moment, in dem man von einer lebensbedrohlichen Diagnose erfährt, können traumatisch sein. Traumatische Ereignisse sind also solche, bei denen die körperliche oder die seelische Unversehrtheit bedroht ist. Gemeinsam haben sie, dass nahezu jeder Mensch währenddessen extreme Angst oder Verzweiflung empfinden würde. Doch nicht nur dann, wenn wir selbst in solche Situationen geraten, hinterlässt das Spuren. Auch das Miterleben von schwerer Gewalt gegenüber einer anderen Person oder die Nachricht vom Tod des eigenen Kindes oder einer sonstigen nahestehenden Person kann traumatisch sein.
Dabei sind jene, die glauben, an ihrem Trauma gereift zu sein, selten frei von Symptomen. Schmerz und Reifung können nebeneinander existieren. „Interessanterweise berichten gerade diejenigen, die schwer erschüttert sind, später eher von posttraumatischem Wachstum“, sagt Judith Mangelsdorf, Professorin für Positive Psychologie an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport und Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie. „Die psychische Erschütterung ist eine Voraussetzung dafür. Offenbar muss das Weltbild der Betroffenen ausreichend ins Wanken geraten, damit sie ein neues und stabileres aufbauen können.“
Laut einer etablierten Theorie spielt die Erschütterung der Grundannahmen über sich und die Welt eine zentrale Rolle dabei, dass posttraumatisches Wachstum entstehen kann. Ein Beispiel dafür ist die Vorstellung, das Leben sei immer fair. Menschen, die Schlimmes erfahren haben, berichten anschließend häufig, fremdes Leid besser nachvollziehen zu können und nun mehr Empathie mit anderen zu haben. Teils sind es also gesunde, aber naive Vorstellungen, die dem Trauma zum Opfer fallen und womöglich Platz für eine differenziertere, vielleicht auch weisere Haltung zum Leben schaffen.
Psychische Erschütterung
Als Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun in den 1990er-Jahren damit begannen, das Phänomen des Wachstums nach traumatischen Erlebnissen zu untersuchen, gab es noch keine zuverlässige Methode, ein solches Wachstum zu messen. Deshalb entwickelten sie dafür einen Fragebogen: das Posttraumatic Growth Inventory. Es zielt auf fünf Teilbereiche ab: die Intensivierung von Beziehungen („Ich fühle mich anderen jetzt näher“), die Entdeckung neuer Möglichkeiten im Leben („Ich habe neue Interessen entwickelt“), das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten („Ich weiß jetzt, dass ich stärker bin, als ich dachte“), den Sinn für Spiritualität („Mein Glaube ist gestärkt“) und eine neue Wertschätzung für das Leben („Ich weiß jeden Tag nun mehr zu schätzen“). Auf einer Skala von null bis fünf sollen Menschen angeben, wie sehr die jeweilige Aussage auf sie zutrifft.
Dieser Fragebogen und ähnliche werden bis heute in den meisten Untersuchungen zu dem Thema eingesetzt. So auch in den 25 Studien, die ein Team um Xiaoli Wu von der Central South University im chinesischen Changsha zusammenfassend betrachtete. Die 2019 erschienene Metaanalyse nutzte Daten von rund 10.000 Menschen, die zum Beispiel sexuellen Missbrauch erlebt, ein Kind verloren hatten oder als Rettungskräfte wiederholt traumatischen Situationen ausgesetzt waren. Bei etwa der Hälfte der Trauma-Überlebenden fand sich ein posttraumatisches Wachstum; die Autoren beschreiben den Effekt als mittel bis hoch.
Doch die Forschung zum posttraumatischen Wachstum hat eine große Schwäche: Sie stützt sich weitgehend auf subjektive Aussagen statt auf objektive Daten. Sagt jemand, er sei an seinem Trauma gewachsen, gehen die Studien davon aus, dass dies zutrifft. Was damit eigentlich erhoben wird, ist aber der nachträgliche, subjektive Eindruck eines Menschen, sich weiterentwickelt zu haben – ein gefühltes Wachstum, nicht unbedingt ein tatsächliches.
Um allerdings die Frage beantworten zu können, ob ich heute beispielsweise tiefere Freundschaften habe als vor meinem Autounfall, muss ich mir nicht nur klarmachen, wie es jetzt um meine Beziehungen steht, sondern auch richtig einschätzen, wie sie vor dem Ereignis waren. Solche Selbsteinschätzungen auf Basis vager Erinnerungen sind fehleranfällig. „Das ist tatsächlich ein methodisches Problem. Wir können traumatische Ereignisse nicht vorhersehen und schon gar nicht im Labor herstellen, um die Betroffenen vorher und nachher zu untersuchen“, sagt Judith Mangelsdorf. Gemeinsam mit zwei Kollegen durchforstete sie daher die psychologische Forschung nach geeigneten Längsschnittstudien, für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Menschen zu anderen Zwecken über Jahre begleitet hatten. Die Teilnehmer dieser Längsschnittstudien sind natürlich nicht vor Schicksalsschlägen gefeit. Und so bergen solche Daten die Chance, den Zustand eines Menschen vor und nach einem solchen Ereignis zu vergleichen – sei es ein Autounfall, eine Krebserkrankung oder der Tod des Partners.
Effekt hält jahrelang an
Das Ergebnis der ebenfalls 2019 erschienenen Metaanalyse: Nach einem einschneidenden Erlebnis egal welcher Art (siehe „Wachstum durch Glücksfälle“) hatten sich die Untersuchten in den Bereichen Selbstbewusstsein und positive Beziehungen teils stark verbessert. Ebenso hatte ihr Gefühl zugenommen, im eigenen Leben die Zügel in der Hand zu haben. „Der Effekt hielt oft noch Jahre nach dem Ereignis an“, erklärt Judith Mangelsdorf. Doch hier gibt es ebenfalls ein methodisches Problem: „Leider fehlte in vielen der untersuchten Studien eine passende Vergleichsgruppe, die im gleichen Zeitraum keinerlei einschneidende Erlebnisse hatte“, erklärt Mangelsdorf. Nur so könne man ausschließen, dass die persönliche Entwicklung nicht auch ohne das Erlebnis stattgefunden hätte. „Denn wir alle reifen im Lauf des Lebens durch positive Erfahrungen und die alltäglichen Unannehmlichkeiten.“ Um Anzeichen des posttraumatischen Wachstums und Effekte dieser natürlichen Reifung zu entwirren, braucht es in Zukunft noch mehr Studien mit einer Vergleichsgruppe. Zudem wirft das Ergebnis der Metaanalyse von Judith Mangelsdorf und ihren Kollegen weitere Zweifel am bisherigen Konzept des posttraumatischen Wachstums auf: In den Bereichen Sinn und Spiritualität gab es nicht den erwarteten Anstieg.
Womöglich handelt es sich in manchen Bereichen vor allem um ein gefühltes Wachstum. Aber ist es deshalb weniger wert? „Der nachträgliche Eindruck, an einem schlimmen Erlebnis gewachsen zu sein, könnte ein Zeichen für eine geglückte Bewältigung sein – selbst wenn sich dieses Wachstum nicht objektiv feststellen lässt“, sagt Tanja Michael, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes. „Es geht um die Geschichte, die ich mir über mein Leben erzähle. Wenn Menschen es im Nachhinein schaffen, ein Trauma als Teil ihrer Geschichte anzunehmen, kann das sehr wertvoll sein.“
Auch Iris-Tatjana Kolassa, Professorin für Klinische und Biologische Psychologie an der Universität Ulm, kennt Patienten, die nach einem schlimmen Erlebnis ihr Leben neu sortieren konnten, eine andere Sicht auf die Dinge entwickelt haben und jetzt zu wissen glauben, wer ihre wahren Freunde sind. Dennoch steht sie der Idee vom posttraumatischen Wachstum kritisch gegenüber. „Wenn man etwas Furchtbares durchgestanden hat, wirken andere Probleme hinterher vielleicht verhältnismäßig klein. Aber auch das muss nicht sein. Ein Trauma macht nicht per se stärker. Es kann immer mal wieder im Leben etwas kommen, das das Trauma triggert. Es bleibt eine Narbe. Und es wäre immer besser, diese Narbe wäre nicht da.“