Wälder erkranken und der Klimawandel soll schuld daran sein. Dabei hat der Mensch über Jahrtausende eine Kulturlandschaft aufgebaut, die mit dem Urwald nichts mehr zu tun hat. Überleben wird sie nur, wenn er der Natur die Führung überlässt.
Dürre Stämme ragen in den Himmel. Von einigen blättert die Rinde ab, wie von einem Körper, dem die Haut abgezogen wurde. Abgebrochene Äste hängen aus den Kronen. Darunter wuchert braun vertrockneter Adlerfarn. Umgestürzte Bäume liegen kreuz und quer – so sieht ein toter Fichtenwald aus.
Immer mehr Bäume in Deutschland erkranken. Laut dem aktuellen Waldzustandsbericht sind die Waldschäden gegenüber dem Vorjahr noch gestiegen. Die Absterberate ist weiterhin überdurchschnittlich hoch, auch im Saarland. Das Schlimme daran: Fast alle Baumarten sind gleichermaßen betroffen. Besonders leiden die Nadelbäume, Fichte und Kiefer. Sie sind dem Trockenstress infolge der Hitzesommer nicht gewachsen. Die Bundesregierung will den deutschen Wald an den Klimawandel anpassen. Von einem „Umbau der Wälder“ ist vielerorts die Rede. Aber geht das überhaupt?
Risikostreuung mit vielen Baumarten
Im Saarland gibt es eine Fläche von rund 93.000 Hektar Wald. Davon sind 38.500 Hektar Staatswald, bewirtschaftet vom Saarforst Landesbetrieb unter Aufsicht des saarländischen Umweltministeriums. 28.000 Hektar sind Kommunalwald, den entweder die Kommunen selbst, teilweise auch der Saarforst bewirtschaften. Bleiben 26.500 Hektar Privatwald, um den sich private Dienstleister kümmern. Allen gemeinsam ist die naturnahe Waldbewirtschaftung, die das Saarland vor etwa 30 Jahren als erstes Bundesland per Verordnung eingeführt hat. Doch Theorie ist nicht gleich Praxis. Der beschriebene tote Fichtenwald befindet sich in der Gemarkung Überherrn. Von den fünfzehn Hektar fielen 2019 fünf Hektar dem Borkenkäfer zum Opfer.
Eine Dienstleistungsfirma, die auf Ertrag ausgerichtet war, begann einige Stellen abzuholzen. Das gefiel der Besitzerin nicht. Sie wandte sich deshalb an Klaus Borger, den Vorsitzenden der Forstbetriebsgemeinschaft Saar-Hochwald. Der rechnete ihr vor, was es kosten würde, wenn sie den Wald komplett kahlschlagen und wieder neu bepflanzen und pflegen müsste. „Diese Pflanzung hätte mehrere Tausend Euro gekostet. Die Natur macht das hier umsonst“, erklärt er. Vom Wegrand ist nicht zu erkennen, was er meint. Der Wald wirkt ramponiert. Also geht es hinein ins Dickicht.
Plötzlich summt es überall, auf dem Boden krabbeln Käfer über giftgrünes Moos, in Spinnennetzen zwischen abgebrochenen Ästen glitzern Regentropfen. Klaus Borger lenkt den Blick an totem Gehölz vorbei.
Der Nebel lichtet sich, Sonnenstrahlen fallen auf die Fläche. Und da sind sie zu sehen: Junge Bäume, die zwischen umgestürzten Bäumen und heraus aus der Adlerfarndecke wachsen. Überall bahnen sie sich ihren Weg durch das Chaos. An freien Stellen stehen sie in Grüppchen dicht beieinander. „Hören Sie die Vögel zwitschern?“, fragt Borger. „Auf einer Fläche mit Kahlschlag ist es totenstill.“
Klaus Borger überlässt diesen Wald zu 80 Prozent sich selbst. 20 Prozent werden durch eine extensive Pflanzung unterstützt. „Impfen“ nennt er das. Dabei werden Bäume gepflanzt, die der potenziell natürlichen Waldgesellschaft angehören, aber wegen dem forstwirtschaftlichen Eingriff nicht mehr wachsen. „Wir brauchen einen Wald mit vielen Baumarten“, sagt Borger, „wie in einem Supermarkt, wo man eine Auswahl aus vielen Sorten hat.“ Hier wachsen unter anderem Fichte, Eiche, Douglasie, Buche, Hainbuche, Bergahorn, Weiden, Esskastanie sowie bodenverbessernde Kräuter und Büsche, wie zum Beispiel Holunder. Borger arbeitet mit Blick auf den Klimawandel mit einer Risikostreuung von zehn bis 15 Baumarten. „Irgendetwas davon wird übrig bleiben“, sagt er.
Der Begriff „naturnahe Waldwirtschaft“ ist nicht geschützt, deshalb definieren Forstbetriebe ihn für sich teils unterschiedlich. Der Saarforst beschreibt das Ergebnis als standortheimische Mischwälder mit verschiedenen Baumarten verschiedenen Alters. Die Bewirtschaftung lehnt sich an natürliche Prozesse an, damit der Wald sich auf natürliche Art verjüngen kann. Es kommen keine Chemie und keine Biozide zum Einsatz. Bis dahin stimmen Saarforst und die Forstbetriebsgemeinschaft Saar-Hochwald überein, doch dann trennen sich die Wege.
Die Pflegemaßnahmen des Landesbetriebes beschränken sich auf das Umfeld der Auslesebäume. Dabei werden wirtschaftliche Bäume mit einem dicken Stamm gefördert, indem man umliegende Bäume entfernt. So bekommt ein Baum viel Licht und Wasser und kann gut wachsen. Spätestens seit 2019 macht Klaus Borger das nicht mehr. „Die Wälder müssen dicht bleiben. Wälder mit dieser Bewirtschaftung wurden heißgeschlagen. Das Mikroklima ist dort verloren gegangen und Bäume, die vorher Beschattung hatten, sind nun der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt“, erklärt er.
Deutschen Urwald gibt es nicht mehr
Je mehr Sonne durch das Kronendach scheint, desto mehr Wasser verdunstet, die Böden trocknen aus und der Wald heizt sich auf. Auf lichten Flächen wachsen Brombeere, Ginster und Adlerfarn. Darunter haben junge Bäume meist keine Chance. Insbesondere nicht, wenn das Totholz aus dem Wald entfernt wird, so wie es das saarländische Umweltministerium laut Borger nach dem Borkenkäferbefall 2019 gefordert hat. Im Privatwald Überherrn spitzen selbst unter dem Adlerfarn Bäumchen hervor. Der Forstwissenschaftler ist überzeugt, dass das auf das Totholz zurückgeht, also die Biomasse, die er im Wald lässt.
Wo das Sonnenlicht seine Spuren hinterlässt, kann man auch in Merzig sehen, im größten Kommunalwald des Saarlandes. Jörg Steffens ist Forstwirtschaftsmeister und stellvertretender Revierleiter im Forstbetrieb Merzig. Er führt an einen Waldweg, wo bewirtschafteter Wald nicht bewirtschaftetem Wald direkt gegenübersteht. Bei letzterem handelt es sich um sogenannte Referenzflächen, auf denen der Wald komplett sich selbst überlassen wird. Im Kommunalwald in Merzig und im Staatswald machen Referenzflächen zehn Prozent der Fläche aus. In der direkten Gegenüberstellung wird der kleine aber feine Unterschied sichtbar.
In dem nicht bewirtschafteten Wald stehen zahlreiche Bäume dicht an dicht nebeneinander. Ein Stamm schließt an den anderen an. Auf dem Boden liegt lediglich altes Herbstlaub. Durch die Dichte der Bäume ist das Kronendach im Sommer geschlossen. Weil kein Sonnenlicht auf den Boden fällt, wächst dort auch nichts.
Auf der gegenüberliegenden Seite stehen weniger Bäume in größeren Abständen. Auch hier entdeckt man kleine Grüppchen nachwachsender Jungbäume. Dazwischen sieht man den einen oder anderen abgesägten Stamm. Es fällt mehr Licht in den Wald – und dort wächst auch die Brombeere.
Der Kommunalwald Merzig hat seine Jahresholzeinschlagsmenge um 25 Prozent reduziert. Um das Gesamtsystem möglichst wenig zu stören, werden einzelne Bäume entnommen. „Aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels wird je nach Hektar noch weniger eingeschlagen als geplant“, erklärt Steffens und fährt fort: „Bei der Holzernte werden nur Stämme und Kronen bis zehn Zentimeter Durchmesser verarbeitet. Der Rest verbleibt als Biomasse im Wald.“ So macht es auch der Saarforst.
Sowohl auf den bewirtschafteten als auch auf den nicht bewirtschafteten Flächen arbeitet der Forstbetrieb Merzig nur mit natürlicher Verjüngung. Das heißt, es werden keine Jungbäume gepflanzt. Wenn, dann würden an einzelnen Stellen Eichen, Esskastanien oder Nussbäume gesät, damit sie bessere Wurzeln ausbilden. Das deckt sich auch mit Klaus Borgers Einschätzung: „Die Bäume aus der Baumschule, die Waldbesitzer pflanzen dürfen, haben durch gesetzliche Vorgaben eine sehr eingeschränkte genetische Information, weil sie nur Vermarktungsziele abdecken. Das heißt zum Beispiel ein möglichst gerader Wuchs, damit später daraus Bretter und Balken produziert werden können.“
Während der Kommunalwald in Merzig in früheren Jahren noch einen kleinen Gewinn erzielen konnte, macht er seit den Trockenjahren Verluste. Mittlerweile könne das, was in den Wald investiert werden müsse, nicht mehr herausgeholt werden, sagt Steffens. Leider könne man den wirtschaftlichen Aspekt aber nicht komplett außer Acht lassen. „Wenn eine Kommune wenig Geld hat, dann beeinflusst das die Bewirtschaftung des Waldes. Wir entscheiden je nach Rentabilität, ob wir eine Borkenkäferfläche kahlschlagen oder sie stehen lassen“, erklärt er. Das berührt einen weiteren Punkt der naturnahen Waldwirtschaft: Das Verbot von Kahlschlägen, im Saarland besteht es seit 1988. Insbesondere hier scheiden sich die Geister.
Bei Klaus Borger schwellen beim Thema Kahlschläge sämtliche Pulsadern an. Hiebmaßnahmen aus verkehrssicherungsrechtlichen Gründen, wegen Naturereignissen oder Schädlingsbefall gelten laut Gesetz nicht als solche. Das sieht er kritisch. Der Saarforst und der Forstbetrieb Merzig erlauben sich, bei Schadflächen zum Teil nach Rentabilität zu entscheiden, ob sie dem Wald das Holz entnehmen. 2023 gingen laut Saarforst 70 Prozent der 175.668 Kubikmeter Holzernte auf Schäden durch Insekten, Naturereignisse oder Verkehrssicherung zurück.
Der Mensch greift seit Jahrtausenden massiv in den Wald ein. Vielerorts wird das gepflanzt, was wirtschaftliche Erträge bringt. So gab es laut Borger in der Vergangenheit Kiefern-, Fichten- oder Lärchenwellen. Genau die Baumarten, die heute in ganz Deutschland besonders vom Trockenstress und dem Borkenkäfer befallen sind. Doch daran habe vor 50 Jahren noch niemand gedacht. „Dem Wald würde es guttun, wenn man ihn komplett sich selbst überlässt. Das ist keine Frage“, sagt Jörg Steffens, „sondern, ob das dem Menschen guttut. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einer Kulturlandschaft leben.“ So etwas wie Urwald gebe es in Deutschland nicht mehr, da sind sich alle drei Parteien einig.
Wald entscheidet, was wächst
Der Privatwald in der Gemarkung Überherrn sei eine Art Kontrollverlust, „weil die Natur einfach mal macht, was sie will und was sie besser kann als jeder Förster“, erklärt Borger. Unter Nutzungsaspekten hätte man früher geordnete und artenarme Wälder gewollt, aus denen heraus sich leicht ernten ließ. Borger strebt das Gegenteil an. „Förster haben immer gelernt, dass der Forst geplant aufwächst. Aber Natur hat eine eigene Gesetzmäßigkeit, die sich nicht der forstlichen Planwirtschaft unterordnet.“
Das kann verunsichern. „Der Klimawandel und die Auswirkungen auf den Wald sind seit Jahren bekannt. Leider liegt es in der Natur der Menschen, erst dann zu handeln, wenn seine Tragweite uns persönlich trifft und einschränkt“, sagt Jörg Steffens.
Wenn man den Holzbedarf für das Bauen, Möbel oder den Energiebedarf in Zeiten des Klimawandels weiter decken wolle, setze das voraus, die artenarmen und labilen Forste zu artenreichen Mischwäldern zu entwickeln, erklärt Klaus Borger. Dabei von einem Umbau zu sprechen, halten allerdings weder er noch Steffens für korrekt. „Ich sage, egal ob Borkenkäfer oder Klimawandel – erst einmal warten und schauen, was von alleine kommt. Und wenn der Wald dann entscheidet, dass da Ahorn wachsen soll, dann wird das schon richtig sein“, erklärt der Forstwirtschaftsmeister. Die eine richtige Bewirtschaftung gibt es für ihn nicht. Denn regional seien die Rahmenbedingungen, beispielsweise die Bodenzusammensetzung, sehr unterschiedlich. „Im Wald prallen ziemlich viele Meinungen aufeinander“, sagt er. „Ich bleibe dabei: Nichts ist perfekt.“