Israels blindwütiger Krieg im Gazastreifen ist eine Sackgasse
Fast sechs Monate nach Beginn des Gaza-Krieges gibt es keine Aussicht auf eine Beendigung der Kämpfe. Die apokalyptischen Bilder von der Zerstörung des Küstenstreifens gehen pausenlos um die Welt. In Israel protestieren seit Tagen Zehntausende Bürger gegen Premierminister Benjamin Netanjahu. Sie verlangen einen Deal mit der islamistischen Hamas zur Freilassung der verschleppten Geiseln sowie Neuwahlen. Das politische Klima ist extrem aufgeheizt.
Bei alledem darf nicht vergessen werden: Vor Israels Angriffen auf den Gazastreifen stand der bestialische Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober. Die Extremisten provozierten damit eine ultra-harsche Reaktion Israels. Sie nahmen das schreckliche Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung in Kauf und bauten auf eine große regionale Eskalation. Das ist zynisch, ruchlos und kriminell.
Dennoch hat sich Netanjahu mit seinem Kurs eines blindwütigen Krieges im Gazastreifen verrannt und sein Land in eine Sackgasse manövriert. Die Bilder von Menschen, die in Trümmerwüsten hausen und kaum etwas zu essen haben, dürfen nicht als „Kollateralschäden“ verbucht werden.
Dass Israel nicht mehr Grenzkontrollpunkte öffnet, um zusätzliche Hilfslieferungen in den Küstenstreifen zu lassen, ist eine moralische Bankrotterklärung. Mehr als 32.000 getötete Palästinenser beim Kampf gegen die Hamas sind ein massiver Glaubwürdigkeitsverlust für ein Land, das immer stolz auf seine Stärke als einzige Demokratie im Nahen Osten war. Es muss andere Mittel geben, die Terrorgruppe auszuschalten.
Netanjahu hat Israel international isoliert. Mehr noch: Er hat seinen wichtigsten Verbündeten, die Vereinigten Staaten, verprellt. Präsident Joe Biden hat eine israelische Bodenoffensive in die Stadt Rafah, in der bereits mehr als eine Million Geflüchtete eingezwängt sind, indirekt als „rote Linie“ bezeichnet. Doch Netanjahu lässt Biden abblitzen. Zur Not werde man allein nach Rafah einmarschieren – ohne Unterstützung der Amerikaner, erklärte er trotzig. Das ist unklug.
Kein Wunder, dass sich linke Demokraten wie der Senator Bernie Sanders dafür stark machen, die US-Militärhilfe für Israel zu kappen. 2022 waren dies 3,3 Milliarden Dollar. Die kürzliche Enthaltung Amerikas bei der Resolution des UN-Sicherheitsrats, die auf eine „sofortige Waffenruhe“ im Gazastreifen pochte, darf man getrost als Wendepunkt bezeichnen. Washington ist nicht mehr automatisch die politische Veto-Eskorte Israels in internationalen Gremien.
Wie tief der Ärger wirklich sitzt, zeigt ein jüngst veröffentlichter Bericht der US-Geheimdienste. Das Misstrauen gegenüber Netanjahus Regierungsfähigkeit sei in der israelischen Öffentlichkeit gewachsen, heißt es darin. „Wir erwarten Massenproteste, die seinen Rücktritt und Neuwahlen verlangen. Eine andere, gemäßigtere Regierung ist eine Möglichkeit.“
Netanjahu fallen derzeit nicht nur die Fehler in Gaza auf die Füße. Er hat keinen Nachkriegsplan. Und er verfügt über kein Konzept für die langfristige Lösung des Konflikts. Ohne Angebote an die Palästinenser mit einer Perspektive auf politische Teilhabe, wirtschaftliche Entwicklung und ein Leben in Würde wird die Spirale aus Terror und Krieg nicht durchbrochen werden. Dass dabei Israels Sicherheit gewahrt werden muss, versteht sich von selbst.
Netanjahu hat sich in den Schraubstock seiner rechtsextremen und ultraorthodoxen Koalitionspartner begeben. Diese setzen nicht nur auf die Vernichtung der Hamas. Sie träumen auch von einem „Großisrael“ mit Annexion des Westjordanlandes und jüdischer Wiederbesiedelung des Gazastreifens.
Netanjahu muss derlei Forderungen nicht eins zu eins umsetzen. Doch er verfolgt gegenüber den Palästinensern eine betonharte Politik, um seine radikalen Kabinettskollegen bei der Stange zu halten. Dabei geht es auch um Gefälligkeiten: Jetzt musste Netanjahu beim Obersten Gericht eine Fristverlängerung beantragen, damit ultraorthodoxe Juden weiterhin keinen Wehrdienst leisten müssen.
Verliert er sein Amt, beginnt nicht nur die große politische Abrechnung über die Sicherheits-Katastrophe am 7. Oktober. Ein abgewählter Premier müsste sich in diversen Verfahren wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit vor Gericht verantworten. Netanjahus Gaza-Krieg ist daher auch eine Operation Machterhalt.