Mehr als zwölf Jahre ist Christian Streich schon Cheftrainer beim SC Freiburg, seit 29 Jahren ist er im Verein. Mehr als sein halbes Leben. Wenn der 59-Jährige im Sommer aufhört, endet also durchaus nicht weniger als eine Ära.
Als Christian Streich am 29. Dezember 2011 den SC Freiburg als Chef-Trainer übernahm, überwinterte Schalke 04 nach einem Dreierpack von Raúl gegen Werder Bremen als Tabellendritter, Hannover 96 war mit Trainer Mirko Slomka Siebter und der SC Freiburg war nach einem 1:4 gegen den späteren Meister Borussia Dortmund mit Trainer Jürgen Klopp und Spielern wie Robert Lewandowski und Ilkay Gündogan Tabellenletzter.
Es drohte der Abstieg in die 2. Liga, wo damals Vereine wie Eintracht Frankfurt oder Union Berlin, Energie Cottbus oder Alemannia Aachen spielten. Es wirkt wie aus einem anderen Zeitalter. Und so ähnlich ist es ja auch. In den über zwölf Jahren, die Streich bei Freiburg an der Seitenlinie steht, verbrauchten nach dem 1. FC Heidenheim, wo Frank Schmidt noch länger im Amt ist, von den aktuellen Bundesligisten Borussia Mönchengladbach und Eintracht Frankfurt die wenigsten Trainer. Es waren deren sieben. Beim VfB Stuttgart waren es sogar unglaubliche 18.
Sorg war die Ausnahme in Freiburg
Deshalb ist Streichs Rücktritt am Saisonende nicht weniger als das Ende einer Ära. Doch wie kam es dazu, dass Christian Streich, dieser kauzige Fußball-Lehrer mit dem breiten alemannischen Dialekt so lange im Amt blieb und sogar nach einem Abstieg in die 2. Liga nicht beurlaubt wurde? Das hängt zum einen natürlich mit dem Verein zusammen, der seit Jahren nach Kontinuität strebt und sie so lebt, dass er deutschlandweit immer wieder als Vorbild genannt wird. In den 33 Jahren seit 1991 waren es tatsächlich nur vier Cheftrainer, die beim SC im Amt waren. Nach 16 Jahren Volker Finke blieb Robin Dutt vier Jahre und wurde nicht etwa beurlaubt, sondern ging nach Leverkusen. Lediglich Marcus Sorg, später Assistent von Joachim Löw und Hansi Flick bei der Nationalmannschaft, funktionierte nicht. Er wurde eben im Dezember 2011 nach einem halben Jahr entlassen und sein Assistent Streich wurde Nachfolger.
Alle streben danach, aber das Durchhalte-Vermögen haben sie nicht. In Köln beschworen Trainer Steffen Baumgart und die Vereinsspitze das „Freiburger Modell“, was sich aber erst mal nur darauf bezog, dass der Vertrag immer nur Jahr für Jahr verlängert wurde. Baumgart führte den gerade erst in der Relegation geretteten FC in den Europacup, wurde in der Stadt teilweise hymnisch verehrt und war nach zweieinhalb Jahren doch wieder Geschichte in Köln. Aber in Freiburg betrifft es ja nicht nur die Trainer wie Streich, der – seine Zeit bei den Jugend-Teams mitgerechnet – sogar seit 1995 im Club ist. Sein Co-Trainer Patrick Baier, der wenige Wochen vor seinem Chef seinen Abschied ankündigte, übte den Job seit 1999 aus. Sportdirektor Klemens Hartenbach ist seit 2001 im Amt, Sportvorstand Jochen Saier seit 2003. Hartenbach ist sogar der ehemalige WG-Genosse Streichs.
Doch würden sie im Breisgau nur Kontinuität um der Kontinuität Willen leben, würden sie wahrscheinlich sich-in-den-Armen-liegend in der 2. oder 3. Liga spielen. Erfolgsdruck gilt auch hier. „Kontinuität in einem Verein gibt es nur dann, wenn eine Mannschaft Ergebnisse erreicht, die über den Erwartungen liegen“, sagte Streich: „Es ist ja nicht so, dass gesagt wird: Hey, der Trainer soll viele Jahre bleiben, damit es Kontinuität in einem Verein gibt.“
„Woanders wäre ich entlassen worden“
Aber es ist eben auch eine Ausnahme, dass ein Trainer nach einem Abstieg bleiben darf. Als der 2015 nach einem 1:2 im Herzschlagfinale bei Hannover 96 feststand, empfand Streich alleine schon die Frage nach seiner Zukunft als irritierend. „Acht Kollegen habe ich Interviews gegeben“, sagte er, als er nach TV-Interviews zu den schreibenden Journalisten kam: „Und wissen Sie was? Alle haben mich gefragt, ob ich weitermache. Das gibt mir zu denken. In was für einer Welt leben wir denn? Ich habe einen Vertrag und den werde ich erfüllen. Das ist doch wohl völlig normal. Daher verwundert mich diese Frage.“ Die Frage an den Club, ob Streich weitermachen darf, stellte aber kaum jemand. „Das war kein Thema. Die haben gesagt, das passiert, das war immer einkalkuliert, dass wir mal absteigen können in Freiburg“, sagte Streich später: „Da hab ich Glück gehabt. Woanders wäre ich entlassen worden.“
Streich kam direkt zurück mit dem SC, als Meister vor Mitaufsteiger RB Leipzig. Und obwohl er im Laufe seiner Zeit immer gesagt hatte, dass der SC „ein kleiner Verein“ sei (wenn auch „vom Wesen ein großer“) und „immer gegen den Abstieg spielen“ werde, hat er in den acht Jahren seitdem viel aufgebaut. Längst wird Freiburg nicht mehr genannt, wenn vor der Saison die Abstiegskandidaten gehandelt werden. Die Frage ist eher: Schafft Freiburg es in den Europacup oder nicht? Gerade standen sie zum zweiten Mal in Folge im Achtelfinale der Europa League, 2022 erreichten sie erstmals das Pokalfinale, das sie gegen Leipzig erst im Elfmeterschießen verloren. Lag der Umsatz 2017 noch bei 63,4 Millionen Euro, so betrug er zuletzt 175,3 Millionen. In der Marktwert-Tabelle sind die Freiburger mit 189 Millionen Neunter. Das sind auch Werte, die Christian Streich geschaffen hat. Und der Club mit dem Bau des neuen Stadions genutzt hat.
Als „Blume aus dem Bundesliga-Biotop“ taufte ihn einst die „Süddeutsche Zeitung“. Und viele fragten sich, ob Streich, der den Verein nach eigener Auskunft „schon mit der Muttermilch aufgesogen hat“, auch irgendwo anders funktionieren würde. Streich war schließlich eigen. Nicht an jedem Standort sieht man es gerne, wenn sich der Trainer dauernd zur Weltpolitik äußert, auch wenn Streichs Auslassungen gegen Fremdenhass zum Beispiel durchaus aufrüttelnd und mitreißend waren und mit menschlichem Verstand eigentlich keinen Widerspruch duldeten. Doch die vielleicht entscheidende Voraussetzung war, dass der Trainer nie auch nur mit einer Silbe infrage gestellt wurde. Wo die Stars beim FC Bayern die „jederzeit offene Tür“ in der Chef-Etage gerne mal nutzten, um sich auszuheulen und gegen ungeliebte Übungsleiter zu rebellieren, wäre ein solcher Aufstand in Freiburg immer ein Eigentor gewesen. Wer nach Freiburg kam, wusste, dass er sich Streich anpassen muss. Denn wenn es zur Entscheidung „er oder ich“ gekommen wäre, hätte jeder Spieler den Kürzeren gezogen. Streich gestand einmal, dass es ihn selbst immer gereizt habe, herauszufinden, ob er auch woanders funktioniert.
„Ich kann nicht mehr woanders hingehen“
Bei dem ein oder anderen Angebot im Laufe der Jahre habe er durchaus gezögert. „Ich habe mich gefreut, wenn mich mal jemand gefragt hat, ob ich zu ihnen kommen will. Das ist nicht so oft passiert. Und da hab ich mich gefreut, dass man auch mal so was wie ein Angebot kriegt. Man ist ja auch eitel“, sagte Streich im Podcast „Einfach mal luppen“ von Weltmeister Toni Kroos: „Dann hab ich mal überlegt, und dann kamen ganz wenige Vereine für mich infrage. Zu manchen könnte ich aus verschiedenen Gründen nicht gehen.“ Schalke hat wohl mal konkret angefragt, bei den Bayern stand er immer irgendwo auf dem Zettel. Doch wenn es um die Entscheidung ging, hing Streich einfach zu sehr an seinem SC und blieb. Seine Eltern wohnen in der Nähe, seine Schwiegereltern, sein Sohn geht hier in die Schule, all das waren für den Menschen Streich Argumente. Sein Sohn Carlos habe bei einem Angebot sogar mal gesagt, „komm Papa, da gehen wir hin“, erzählte Streich: „Da war er noch jünger. Da hab ich gesagt: Warte mal ab, wenn du weg bist von deinen Freunden. Komm, wir bleiben hier.“
Und irgendwann, auch das gestand er herzerfrischend offen ein, war der Zeitpunkt auch irgendwie verpasst. „Ich kann nicht mehr woanders hingehen“, sagte er 2022 im Kroos-Podcast: „Weil die Wahrscheinlichkeit, dass wir keinen Erfolg hätten, wäre nicht gering. Weil ich es nicht kenne und nie gemacht habe. Ich kenn mich da überhaupt nicht aus. Ich hätte große Zweifel, ob wir nicht Misserfolg hätten.“ Mit solchen Aussagen im Hinterkopf erscheint es durchaus fraglich, ob Streich noch mal irgendwo als Trainer auftaucht.
Den noch wichtigeren Zeitpunkt hat er aber erwischt: den richtigen zu gehen. „Ich würde mir wünschen, dass ich irgendwann Danke sagen kann und die anderen auch sagen: Wir fanden es nicht so schlecht. Wenn man diesen Moment finden könnte, wäre es ein Traum“, hatte er in einem „Kicker“-Interview 2016 gesagt. Sechs Jahre später sagte er gar: „Ich will, dass es nach der langen Zeit nicht im Streit auseinandergeht. Doch wie soll das gehen? Denn wenn es gut läuft, mach‘ ich weiter, denn der Honig ist süß. Und wenn es nicht gut läuft, sagen die vielleicht irgendwann: Jetzt reicht’s.“ Er hat es trotzdem geschafft. Und das macht seine Geschichte erst richtig rund.