Die Füchse Berlin haben den neuen Welthandballer in ihren Reihen. Die Auszeichnung von Mathias Gidsel macht den Club stolz, auch der Däne fühlt sich geehrt. Doch nun sollen die Titel her, die wirklich zählen.

Mathias Gidsel wollte einfach nur noch weg. Vor wenigen Minuten hatte er mit der dänischen Handball-Nationalmannschaft das Finale der Europameisterschaft in seiner Wahlheimat Deutschland gegen Frankreich verloren. Sein Traum vom ersten EM-Triumph – zerplatzt an knochenhart kämpfenden Franzosen. Er selbst hatte ein gutes, aber kein überragendes Spiel gemacht. Der Frust war beim Topfavoriten Dänemark riesengroß, das Team verließ daher schnell das Parkett der Lanxess Arena in Köln. Doch Gidsel musste noch mal zum Ort der bitteren Enttäuschung zurück. Er wurde eindringlich gebeten, sofort wieder vors Publikum zu treten, um den „Goldenen Ball“ als Auszeichnung für den besten Torschützen des Turniers entgegenzunehmen. Und so erlebte der Rückraumspieler des Bundesligisten Füchse Berlin hautnah mit, wie die Franzosen ihren Coup ausgelassen feierten und bejubelten. Für Gidsel fühlte es sich wie eine doppelte Bestrafung an.
„Es war fast ein wenig unmenschlich“
„Ich fand es hart und widerlich, dass ich fünf Minuten nach der Enttäuschung rein musste, um den Titel als bester Torschütze entgegenzunehmen“, sagte Gidsel im TV-Interview: „Es war fast ein wenig unmenschlich, dass man sich nicht erholen durfte, bevor man vor 20.000 Menschen und Millionen Fernsehzuschauern treten musste.“ Einer spürte genau, was in Gidsel gerade vor sich ging: Mikkel Hansen. Dänemarks Handball-Ikone nahm den elf Jahre jüngeren Teamkollegen nach der Preisverleihung in den Arm und sprach ihm gut zu. Gidsel war davon gerührt. „Für einen jungen Mann war es schwer, und ich denke, Mikkel konnte das auch erkennen“, sagte er hinterher. Die Szene könnte auch sinnbildlich für etwas anderes stehen: für die endgültige Wachablösung im Welthandball. Denn Hansen, einst der beste und erfolgreichste Handballer, hat seinen Nachfolger gefunden. Gidsel tritt schon länger in die Fußstapfen des 36-Jährigen, doch nun ist es auch offiziell: Der Füchse-Profi ist zum Welthandballer 2023 gewählt worden.
„Das ist für mich natürlich eine große Überraschung, ich bin natürlich sehr stolz“, sagte Gidsel, der als echter Teamplayer die Ehrung gern an seine Mannschaftskollegen sinnbildlich weiterreichte: „Es ist auch ein großes Lob für die dänische Nationalmannschaft und die Füchse Berlin, zwei der besten Mannschaften der Welt.“ Die größte individuelle Auszeichnung im Handballsport zu empfangen sei eine große Ehre, sagte er, „aber ich hoffe, auch alle meine Mitspieler klopfen sich auf die Schulter, denn ich bin nur ein kleiner Teil dieser Mannschaften“. Bei dem Voting setzte sich der Däne vor dem deutschen Nationaltorhüter Andreas Wolff und dem französischen Europameister Ludovic Fabregas durch.
Während die Wahl in Dänemark fast schon beiläufig zur Kenntnis genommen wurde, war der Jubel in Berlin riesengroß. Erstmals erhielt ein Fuchs diese Auszeichnung. „Es ist für uns eine große Ehre, den weltbesten Handballer in den eigenen Reihen zu wissen“, sagte Geschäftsführer Bob Hanning: „Wir haben gemeinsam mit Mathias noch viel vor.“ Deswegen verlor der Hauptstadtclub auch keine Zeit, die Zusammenarbeit mit dem vermutlich besten Rückraumspieler seiner Generation vertraglich nochmals auszubauen. Im Winter 2022, also nur ein halbes Jahr nach seiner Ankunft in Berlin, verlängerte Gidsel vorzeitig bis 2028. Es war ein Statement von Club und Spieler gleichermaßen. „Mit diesem Verein um die erste deutsche Meisterschaft zu kämpfen und als Herausforderer oben anzugreifen – das ist das, was mich antreibt und wofür ich mit der Mannschaft hart arbeiten möchte“, sagte der Däne.
Den bei fast allen europäischen Topclubs begehrten Gidsel langfristig an sich binden zu können, war der zweite Coup nach dem eigentlichen Transfer, für den die Füchse bereits reichlich gelobt worden waren. „Ein Spieler wie Mathias ist ein Impulsgeber für unsere Mannschaft, setzt auch nach außen Maßstäbe und zeigt, dass wir gewillt sind, uns über die nächsten Jahre mit den Spitzenclubs zu messen“, sagte Geschäftsführer Bob Hanning. Gidsel soll zum Gesicht des ganzen Vereins aufgebaut werden. „In Amerika würde man einen Spieler wie Mathias Gidsel ‚Franchise Player‘ nennen und ich glaube, er kann so etwas sein“, meinte Sportvorstand Stefan Kretzschmar und fügte hinzu: „Er ist jemand, der eine unfassbare Mentalität mitbringt und eine Mannschaft noch mal enorm pushen kann. Er hat unser Team noch mal besser gemacht.“
In engen Situationen gern am Ball
Gemessen an den etwas mehr als anderthalb Jahren in Berlin darf man festhalten: Der Plan ging auf. Sportlich ist der zweimalige Weltmeister ein unumstrittener Führungsspieler, der vor allem in engen Spielsituationen gern den Ball hat und damit etwas anzufangen weiß. Mit 221 Toren nach 28 Spielen führte er teamintern die Rangliste an – und das ohne Siebenmeter-Tore, wohlgemerkt! Dicht dahinter folgt Gidsels Landsmann Lasse Andersson, mit dem er sich auf und neben dem Parkett prächtig versteht. „Diese beiden Jungs sind spielbestimmend, entscheiden häufig über Sieg oder Niederlage bei uns“, sagte Füchse-Trainer Jaron Siewert. „Das können sie gern noch drei Monate weiter machen und ihre bestechende Form behalten.“ Auch bei den Assists (101) und Steals (22) ist Gidsel unter allen Füchsen top. „Er ist jemand, der eine unfassbare Mentalität mitbringt und eine Mannschaft noch einmal enorm pushen kann“, sagte Kretzschmar.
Doch Gidsel ist keiner, der für die eigene Statistik spielt – ganz im Gegenteil. Der Mannschaftserfolg steht bei ihm ganz oben auf der Agenda, genau wie die Spielfreude. Denn ohne Spaß geht bei Mathias Gidsel gar nichts. „Er ist schon eine kleine Spielmaus“, sagte Kapitän Paul Drux. Und das scheint ansteckend zu sein. „Meine Mitspieler sagen manchmal, ich lache zu viel während eines Spiels und dass ich fokussierter sein müsste. Aber so bin ich einfach“, sagte der Instinkt-Handballer. Ändern wolle er sich in diesem Punkt nicht mehr, denn es sei eines seiner Erfolgsgeheimnisse. „Für mich ist das Handballparkett wie ein Spielplatz. Es ist der beste Job der Welt, jeden Tag aufzuwachen, Handball zu spielen und Spaß zu haben“, sagte Gidsel: „Das motiviert mich, das treibt mich an.“
Das Publikum liebt ihn für diese Einstellung. Innerhalb kürzester Zeit ist Gidsel zum Fan-Liebling aufgestiegen, seine Spielkunst und sein Bekenntnis zum Club haben zu einer glaubhaften Bindung zwischen Profi und Anhängerschaft geführt. „Ich kann mit meinem Spiel Menschen beeindrucken. Ich glaube, einige würden mich als Show-Typ oder Entertainer bezeichnen“, erklärte der junge Däne. Er mag es, vor Publikum zu spielen und es zu unterhalten. Mitunter wählt er deswegen auch den schwierigeren Pass zum Mitspieler, einfach nur, „um zu zeigen, was möglich ist“. Er wolle die Leute überraschen, fast wie ein Handball-Magier. „Und wenn sich die Leute dann fragen, wie ich das gemacht habe, dann kann ich mich tierisch darüber freuen.“ Alles andere – Titel, Auszeichnungen, Ehrungen, Medaillen – seien „eigentlich nur die Kirsche auf der Sahne“.
Endlich die erste Meisterschaft?

Als er noch in Dänemark beim Heimatclub GOG Handbold spielte und einer der begehrtesten Spieler weltweit war, sei es für ihn nicht leicht gewesen, die Leichtigkeit in seinem Spiel zu behalten. Ein „bis dato nicht gekannter Druck“ habe damals auf ihm gelastet, berichtete Gidsel: „Es war ein schwerer Prozess, den richtigen Club für mich zu finden. Es gab Interessenten aus ganz Europa. Es ging für mich jedoch nicht nur um Spielzeit, sondern auch darum, wo ich mich am meisten gewollt fühlte.“ Und die Bosse der Füchse Berlin vermittelten ihm am meisten den Eindruck, nicht nur das Riesentalent Mathias Gidsel verpflichten zu wollen. Vor allem Sportvorstand Kretzschmar habe mit den richtigen Worten und Taten um ihn geworben, verriet der Handballprofi: „Ich hatte den Eindruck, dass es ihm wirklich wichtig war, dass ich sowohl als Handballer als auch als Mensch nach Berlin komme. Das war am Ende das Ausschlaggebende.“ Aber natürlich habe ihm auch das Projekt des Clubs gefallen, „dass ich mit den Füchsen derjenige sein kann, der die großen Teams jagt.“ Und das tut er seit seinem Wechsel sehr erfolgreich.
Schon im Vorjahr waren die Füchse nah dran an der ersten Meisterschaft, doch eine eher schwache Rückrunde und Patzer gegen vermeintlich schwächere Teams kosteten sie die Meisterchance. In dieser Saison agiert das Team deutlich konzentrierter und konstanter, der jüngste 32:27-Sieg bei Frisch Auf Göppingen war ein weiterer Beleg dafür. Die besten Torschützen waren wieder einmal die dänischen Topstars Gidsel und Andersson mit je neun Treffern. „Wir bleiben bei unserem Spiel, laufen weiter, und nicht viele Mannschaften halten das mit durch“, sagte Andersson über das Erfolgsrezept seines Teams. Nach zwei intensiven Wochen mit sechs Siegen in sechs Spielen schwärmte Trainer Siewert von der „mega Mentalitätsleistung“ seiner Spieler: „Wir haben zum Glück ein paar Tage mehr Zeit, um unsere Akkus aufzuladen, und dann gucken wir, was wir am Samstag auf die Platte kriegen können.“
Am 13. und 14. April geht es im Final Four in Köln um den DHB-Pokalsieg, dort treffen die Füchse im Halbfinale auf den SC Magdeburg. Der Champions-League-Gewinner ist auch der einzige noch ernsthafte Konkurrent der Füchse im Titelrennen der Bundesliga. Außerdem haben die Berliner noch die Chance auf den Triumph in der European League, im Viertelfinale am 23. und 30. April wartet im Hin- und Rückspiel der französische Topclub HBC Nantes. Doch die Füchse müssen sich bei ihrer Qualität im Kader weder vor Nantes noch vor Magdeburg verstecken – schließlich kommt der neue Welthandballer aus Berlin.