20 Jahre ist die letzte große EU-Erweiterungsrunde her. Ein mühsamer Prozess, bei dem trotz aller Unterschiede letztlich alle profitieren. Und alle stehen vor denselben Herausforderungen.
In großen Denkfabriken wird seit geraumer Zeit intensiv an einem Szenario gerechnet: Was würde ein Beitritt der Ukraine finanziell für die EU bedeuten? In welcher Größenordnung würde sich der Beitritt auswirken? Geht es um 110 bis gut 135 Milliarden Euro, wie die Brüsseler Denkfabrik Bruegel berechnet? Oder um über 185 Milliarden Euro, die die „Financial Times“ nennt, wobei sie sich auf eine durchgesickerte Studie des EU-Rates beruft?
Was ein Ukraine-Beitritt kosten würde
Nichts Genaues weiß man nicht, zumal derzeit völlig unklar ist, welche Rahmenbedingungen man solchen Modellrechnungen zugrunde legen sollte. Eine Ukraine in den ursprünglichen Grenzen (vor 2014)? Sicher ist eigentlich nur: Die EU hat Ende letzten Jahres den Weg frei gemacht für Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine (und Moldau) und damit die Perspektive auf einen weiteren Erweiterungsschritt.
Die letzte große Erweiterungsrunde liegt nun genau zwanzig Jahre zurück. Es war die größte Runde dieser Art. Ein „historisch einmaliges Ereignis“, so wurde seinerzeit die EU-Osterweiterung um gleich zehn neue Mitgliedsländer kommentiert. Ende April soll der zwanzigste Jahrestag mit einem großen Europafest in Zittau im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien gefeiert werden. „Wir wollen nach vorn schauen und darüber diskutieren, wie wir unser friedliches, demokratisches Europa voranbringen und den Weg für den Beitritt weiterer Staaten zu unserer Gemeinschaft ebnen können“, kündigt Barbara Gessler an, die Vertreterin der EU in Deutschland.
Am 1. Mai 2004 traten Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, Ungarn, die Slowakische Republik, Slowenien sowie Zypern und Malta der EU bei, die Gemeinschaft wuchs um rund 75 Millionen neue EU-Bürgerinnen und Bürger. 2007 sollten noch Rumänien und Bulgarien dazukommen. Es war das Ergebnis eines langen Prozesses seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und den großen politischen Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa 1989/1990.
Zwei Jahrzehnte nach der großen Osterweiterung baut derzeit die Bundeswehr eine komplette Brigade in Litauen auf, zum Schutz der Nato-Ostflanke, zugleich die EU-Außengrenze im Baltikum. Und in Rumänien haben die Bauarbeiten für den größten Nato-Stützpunkt in Europa begonnen, der im Ausbau größer als die Air Base Ramstein, der bisher größte US-Stützpunkt außerhalb der USA, werden soll.
Auf europäischem Boden herrscht seit mehr als zwei Jahren wieder Krieg – und die damals neuen Mitgliedsstaaten sind seither in einer völlig neuen Situation, auch innerhalb der EU. Lange hatte man auf EU-Ebene den regelmäßigen und intensiven Warnungen insbesondere der Mitgliedsstaaten mit Grenzen zu Russland nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die, im Nachhinein betrachtet, geboten gewesen wäre. Aber so manches der vor zwanzig Jahren neuen Mitglieder hat es der EU auch nicht immer leicht gemacht – und macht es nach wie vor nicht.
Spätestens seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich die Aufmerksamkeit innerhalb der EU deutlich nach Osten verschoben, und die östlichen Mitgliedsstaaten sind selbstbewusster geworden. Ein sichtbares Zeichen dafür hat vor Kurzem Klaus Johannis gesetzt. Der rumänische Präsident hat öffentlich seine Ambition auf den Posten des Nato-Generalsekretärs kundgetan. Rumänien habe schließlich bewiesen, dass es „eine Säule der Stabilität und Sicherheit in der Region“ sei. Es ist auch eine Art Probe auf die Machtverhältnisse, schließlich war zuvor schon der Niederländer Mark Rutte als Nachfolger von Jens Stoltenberg aufs Schild gehoben worden, mit Unterstützung westlicher Partner, darunter auch Deutschland.
Die Entwicklungen im Osten genießen inzwischen deutlich mehr Aufmerksamkeit im Westen. Das zeigt sich aktuell etwa an der Präsidentschaftswahl in der Slowakei (mit gerade mal 5,5 Millionen Einwohnern). Eine herausgehobene Rolle unter den damals zehn neuen Mitgliedern kam und kommt Polen zu. Im Zusammenhang mit dem Brexit (2021) gingen viele davon aus, dass sich die Gewichte innerhalb der EU dahingehend verschieben würden, dass Polen ein deutlich stärkeres Gewicht bekäme und sich damit die Gewichte überhaupt etwas in Richtung Osten verschieben würden; naheliegend, weil es zuvor schon das „Weimarer Dreieck“ gab, ein Gesprächsformat zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, aber auch, weil Polen als Bindeglied gesehen wurde, nicht nur wegen seiner Größe. In den acht Jahren der PiS-Regierung hat Polen allerdings einen Kurs genommen, der vielfach auf Konfrontation mit Brüssel angelegt war. Dies hat sich seit dem Krieg in der Ukraine jedoch ein Stück weit verändert und die Bindeglied-Rolle dürfte sich unter der neuen Regierung des EU-freundlichen Donald Tusk weiter intensivieren. Allerdings hat Tusk nach seinem Wahlsieg zunächst noch viele innenpolitische Baustellen aus der Ära der PiS-Regierung zu bearbeiten.
Ein wachsendes Selbstbewusstsein der Osteuropäer war schon lange vor dem Krieg in der Ukraine auszumachen. Das Bündnis der vier Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) diente auch dazu, osteuropäische Interessen zu bündeln und gegenüber Brüssel zu stärken, und das zu einer Zeit, als in diesen Staaten teilweise infolge der Wirtschaftskrise (2009) europakritische Regierungen gewählt wurden, die autoritär zu Werke gingen und ihr eigenes Verhältnis zu Rechtsstaatlichkeitsprinzipien entwickelten.
Wohlstandsversprechen teilweise erfüllt
Trotzdem stellte Ungarn-Korrespondent Boris Kálnoky in einer Bilanz der ersten 15 Jahren nach dem Beitritt fest: „Nirgends ist der Rückhalt für die EU größer, nirgends wollen weniger Bürger, dass ihre Länder aus der EU austreten, als im Osten Europas.“ Besonders augenfällig war dieser Zwiespalt in Polen, wo im vergangenen Jahr nun ein Regierungswechsel zum europafreundlichen Tusk gewählt wurde.
Das Wohlstandsversprechen, das für viele im Osten mit dem EU-Beitritt verbunden war, hat sich nur teilweise erfüllt. Einer EU-internen Bilanz zufolge ist der Wohlstand zwar deutlich gewachsen, der Abstand zwischen Ost- und West-Mitgliedsländern hat sich auch deutlich verringert – aber es gibt ihn nach wie vor. Doch die wirtschaftliche Entwicklung ist durchweg weiter auf gutem Kurs. Prognosen der EU zur Entwicklung bis 2025 sagen osteuropäischen Mitgliedsstaaten höhere Wachstumsraten voraus als im EU-Durchschnitt (erwartet: plus 1,7 Prozent) oder im Durchschnitt der Euro-Länder (erwartet: plus 1,5 Prozent).
Das Erweiterungsprojekt von vor zwanzig Jahren wird dauerhaft begleitet von der Diskussion über die Handlungsfähigkeit einer EU mit aktuell 27 Mitgliedsstaaten, deren Vielfalt oft als großer Reiz gelobt wird, deren unterschiedliche und teils widerstrebende Interessen aber auch lähmend wirken. Kein Wunder, wenn vor möglichen weiteren Aufnahmen erst einmal durchgreifende innere Reformen angemahnt werden.
Das ist unter den geltenden Spielregeln ein Kraftakt der besonderen Art, aber zwingend geboten, will die EU die großen Herausforderungen meistern, vom Klimawandel, der wirtschaftlichen Transformation bis zu einer gestärkten Rolle in einer Welt, in der sich die Machtverhältnisse neu sortieren und Konturen einer neuen Weltordnung erst entwickeln.
Das alles hängt eng miteinander zusammen. Und die nächste Erweiterung ist angesichts der aktuellen Kriegssituation für die Ukraine und das ebenfalls bedrohte Moldau eigentlich ausgemachte Sache. Dazu laufen weiter die Verhandlungen mit den Balkan-Staaten, während die mit der Türkei derzeit de facto auf Eis liegen.
Bei den Europawahlen Anfang Juni wird es auch darum gehen, ob Kräfte für notwendige Reformen für eine handlungsfähige und schlagkräftige EU eine ausreichend starke Basis bekommen.