Die Zeitenwende bei der Bundeswehr ist zwar finanziert, aber die Umsetzung bei der Truppe wird etwas länger dauern. Nun hat Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius noch grundlegende Reformen und eine Neuausrichtung auf den Weg gebracht.
Es gab etwas zu feiern in Brüssel, doch einer war nicht dabei: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Zu den ohnehin eher bescheidenen Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses Nato waren nur die Außenminister der 32 Mitgliedsstaaten geladen und nicht die Verteidigungsminister der Länder. Das liegt durchaus in der Logik dieses Bündnisses.
Pistorius nutzte den Tag jedenfalls auf seine Art, um Deutschlands Beitrag zu unterstreichen. Während in Brüssel symbolisch eine kleine Torte angeschnitten wurde, präsentierte der deutsche Verteidigungsminister nicht weniger als eine grundlegende Reform der Bundeswehr. Demnach wird es zukünftig eine vierte Waffengattung geben, neben Heer, Luftwaffe und Marine soll zukünftig die Cyber-Abwehr die vierte Säule der Verteidigung sein.
Bislang wurde dieser Bereich mehr oder minder effektiv in den drei bestehenden Waffengattungen mit beackert. Das heißt, Heer, Luftwaffe und Marine reagierten in Eigenregie auf Hacker-Attacken. Zwar gibt es einen Stab, doch bei den Zuständigkeiten ging es dann eher unübersichtlich zu. Im Zweifelsfall wurde der Militärische Abschirmdienst (MAD) eingeschaltet, der dann wiederum mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) Rücksprache hielt. Bei größeren und vor allem alle Waffengattungen betreffenden Netz-Angriffen wurde dann der Bundessicherheitsrat im Bundeskanzleramt informiert. Das heißt, auf bis zu sechs verschiedenen Ebenen musste beraten und entschieden werden, wie ein aktueller Cyber-Angriff zu bewerten und abzuwehren war. Bis zu 24 leitende Mitarbeiter müssen aktuell immer noch eingebunden werden, um zu einer Lagebewertung zu kommen und über mögliche Aktivitäten für koordinierte Gegenmaßnahmen zu entscheiden.
Entscheidungen in Minuten
Zu Zeiten der konventionellen Verteidigung hätte diese Alarmkette vielleicht funktioniert, doch jetzt braucht es zentrale Entscheidungen innerhalb von wenigen Minuten und nicht Stunden oder Tagen, darum nun das vierte Standbein der Bundeswehr, die Cyber-Abwehr. Doch Bundesverteidigungsminister Pistorius ist auch klar: Bis diese neue Waffengattung in das System Bundeswehr eingebunden ist und auch funktioniert, dürften wohl mehr als Monate vergehen, eher Jahre. Doch der 64-Jährige ist fest entschlossen, die Zeitenwende nun auch bei der Kommandostruktur anzugehen.
Darum gleich noch der zweite Paukenschlag am Geburtstag der Nato. Die oberste Kommando-Ebene der Bundeswehr soll ebenfalls vereinfacht werden. Aus Zwei mach Eins. Das Einsatzführungskommando für die Auslandseinsätze am Schwielowsee bei Potsdam und ihr Pendant für die Inlandsverteidigung in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin-Reinickendorf, das territoriale Kommando, sollen nun zu einem Befehlsstand zusammengelegt werden.
Das ist nicht nur organisatorisch und strukturell, sondern vor allem auch inhaltlich eine klare Ansage vom Verteidigungsminister. Die Zeiten, in denen es vor allem um Auslandseinsätze der Bundeswehr ging und die Landesverteidigung eine eher untergeordnete, nach Ansicht mancher sogar eigentlich gar keine Rolle mehr gespielt hat, sind damit endgültig vorbei. Bereits im Winter hatte Boris Pistorius angekündigt: „Wir müssen wieder kriegstüchtig und damit wehrhaft werden und dafür die Bundeswehr neu aufstellen.“ Nun will der Verteidigungsminister in der Praxis zeigen, was diese vieldiskutierten Worte bedeuten. Das aber ist alles andere als einfach.
Mit dem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen Bundeswehr ist zwar derzeit scheinbar viel Geld für Einsatzgerät da, doch es fehlt zum Beispiel an Personal, und das kann man nicht so ohne weiteres bei Rüstungsfirmen bestellen. In drei Jahren soll allein das Heer drei verfügbare Divisionen mit jeweils 20.000 Soldaten stellen, so die deutsche Nato-Zusage. Derzeit ist tatsächlich nur eine Division verfügbar, die vollumfänglich jederzeit und weltweit einsetzbar ist. Das sind die schnellen Kräfte unter anderem mit der Elitegruppe Kommando Spezialkräfte.
Aber selbst das hat einen nicht unwesentlichen Haken. Die 20.000 Frauen und Männer der Bundeswehr sind zwar weltweit umgehend einsetzbar, aber bei Transportkapazitäten ist man dann doch wieder auf die Bündnispartner oder sogar Drittstaaten angewiesen. Einer dieser Drittstaaten war in den Zeiten des Afghanistan-Einsatzes die Ukraine, die über das entsprechende Luftkontingent zum Transport vor allem von Material verfügten – etwa über das riesige Transportflugzeug Antonow Mrija, das inzwischen von Russland zerstört wurde. Die Bundesluftwaffe verfügt nicht über Maschinen mit vergleichbarem Frachtraum für Mensch und Material. Aushelfen kann hier im Ernstfall nur die US Air Force, doch deren Lufttransporter sind wesentlich kleiner und damit ein Problem für Sofort-Kommandos mit viel Gerät.
Umbau nach 30 Jahren Friedensdividende
Die Bundeswehr, 1955 gegründet als reine Verteidigungsarmee, wurde nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 komplett umgebaut zu einer Armee für Auslandseinsätze. Kosovo, Afghanistan oder Mali waren die bekanntesten und umfangreichsten Missionen. Jetzt geht es Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius vor allem um Verteidigungsbereitschaft, wie in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren.
Neben Struktur und Material steht die Truppe vor einer weiteren massiven Aufgabe: Personal. Mitten im Kalten Krieg 1983 standen knapp 496.000 Mann im Dienst. Im vergangenen Jahr waren es noch 182.000 Frauen und Männer. Für das ambitionierte Konzept von Pistorius viel zu wenig Personal. Entsprechend kritisch wird die Bundeswehrreform in der eigenen Truppe gesehen. Hier geht es nicht nur um einen Paradigmenwechsel, sondern hier soll alles von links auf rechts gedreht werden, und das wird in so einer Behörde immer auf Widerstände stoßen. Um das durchzusetzen, brauche es ein Jahrzehnt, meint ein Leutnant a. D., der neun Auslandseinsätze hinter sich hat und inzwischen im Ruhestand ist, erfreut. Die Umstellung von einer Auslands- zur Verteidigungsarmee sieht auch sein ehemaliger Vorgesetzter Generalleutnant a. D. Rainer Glatz kritisch. Für ihn ist das Vorhaben „ein erster Schritt in die richtige Richtung“, so der frühere Befehlshaber des Einsatzführungskommandos. Doch bislang kenne er nicht „das Kleingedruckte im Vertrag, also das Ergebnis der Feinausplanungen im nachgeordneten Bereich, die nun als Nächstes folgen sollen“. Der ehemalige Generalleutnant Glatz ist damit skeptisch, ob das Projekt nach Nato-Vorgaben so einfach umsetzbar ist. Da hilft auch keine Debatte über die Wehrpflicht, deren Aussetzung aufgehoben werden könnte. 30 Jahre Friedensdividende nach dem Mauerfall waren einfach zu lange, als dass der Umbau zu einer schlagkräftigen Verteidigungsarmee in ein paar Monaten vollzogen werden könnte, selbst wenn es mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen eine Voraussetzung gibt wie noch nie in den letzten Jahrzehnten.