Die georgische Nationalmannschaft ist zum ersten Mal bei einer Europameisterschaft, die Polen machten es spannend und die Ukraine besiegt die Isländer – das Teilnehmerfeld ist nun komplett.
Willy Sagnol ist ehemaliger Bayern-Profi, Trainer der georgischen Nationalmannschaft und jetzt auch Nationalheld in Georgien. Denn er ist der erste Nationaltrainer, der mit Georgien zur Europameisterschaft fahren darf. Und es schließt sich für den ehemaligen Rechtsverteidiger ein Kreis: Er ist zum einen der erste französische Trainer, der eine Europameisterschaft mit einer ausländischen Nation bestreiten wird, zum anderen findet das Turnier in Deutschland statt, wo er als aktiver Spieler zwischen 2000 und 2008 seine erfolgreichste Zeit hatte. In den Play-offs setzten sich die Georgier gegen Griechenland im Elfmeterschießen durch. „All unsere Anstrengungen, all die harte Arbeit, die wir in den vergangenen drei Jahren geleistet haben, haben wir heute zurückbekommen, und das ist ein unglaubliches Gefühl“, sagte Sagnol nach dem Spiel gegen Griechenland im Hexenkessel von Tiflis. Im Stadion Boris Paichadze waren die Georgier frenetisch angefeuert und in der eigens eingerichteten Fan-Zone der georgischen Hauptstadt dann noch spät in der Nacht von 50.000 Fans gefeiert worden. Am Tag danach schlug Regierungschef Irakli Kobachidse die Mannschaft für die Ernennung eines Ehrenordens vor. „Diese Jungs sind Helden“, sagte er, so schreibt es die „FAZ“.
Sagnols erster Trainer-Erfolg
Sagnol ist schon seit drei Jahren Georgiens Nationaltrainer. Durchaus eine überraschende Wahl, denn seine Trainerkarriere lief eher bescheiden. Seine Engagements bei Girondins Bordeaux, der U21-Nationalmannschaft der Franzosen und für ein Spiel beim FC Bayern München waren nicht von Erfolg geprägt; danach legte der Franzose erst mal eine Pause ein. Dass er dann beim georgischen Verband gelandet ist, liegt auch an einem alten Bekannten aus der Bundesliga.
Lewan Kobiaschwili, 16 Jahre Bundesliga-Profi in Freiburg, Schalke und Berlin, ist mittlerweile Verbandspräsident in Georgien und nahm Kontakt zu ihm auf. „Es hat aber gedauert, bis ich dem georgischen Verband zugesagt habe, weil die ersten Gespräche mit dem Beginn des Covid-Ausbruchs stattfanden und ich mich meiner Familie widmen wollte“, sagt der Franzose, „ein paar Monate später haben mich mehrere ehemalige Bundesliga-Spieler vom georgischen Verband angerufen, und es hat irgendwie gefunkt. Bis heute habe ich diese Entscheidung keine Sekunde bereut.“ Den großen Teil seiner Zeit verbringt der Fußballlehrer in Tbilissi und geht in seiner Rolle förmlich auf. Nach der Europameisterschaft stehen die Zeichen jedoch scheinbar auf Trennung. Angebote gibt es regelmäßig, nach der historischen Qualifikation werden es sicherlich nicht weniger werden. Denn: Der Weg zur Endrunde war alles andere als einfach. Gegen Portugal, Tschechien und die Türkei wird ganz Georgien Kopf stehen. Kopf stand auch ganz Polen, denn die Qualifikation für die Europameisterschaft gelang am Ende auf der letzten Rille. Die polnischen Medien standen nach der verpatzten direkten Qualifikation Kopf. „Wir waren mit Tschechien, Albanien, Moldawien und den Färöer Inseln mit Mannschaften in einer Gruppe, die weniger Potenzial als die polnische Auswahl haben. Das Ergebnis ist katastrophal“, schrieb die Zeitung „FAKT“. „Die Nationalmannschaft stirbt qualvoll“, titelte das Portal Sport, während die Sportzeitung „Przeglad Sportowy“ noch deutlicher wurde: „Wir haben wieder den Mittelfinger gesehen. Die Welt lacht uns aus.“ Spannender konnte es dann nicht werden, als Wales im entscheidenden Spiel erst im Elfmeterschießen bezwungen werden konnte. Dabei gab es im Verband im vergangenen Jahr einige Querelen: Fernando Santos, seines Zeichens Europameister mit Portugal 2021, wurde nach sechs nicht zufriedenstellenden Spielen entlassen und durch Michael Probierz ersetzt. „Das ist die bestmögliche Wahl“, schrieb der Chef des polnischen Fußballverbands PZPN, Cezary Kulesza. Damit sollte er recht behalten, denn die in weite Ferne gerückte Qualifikation wurde schlussendlich doch erreicht – und Polen nimmt an seiner nächsten Europameisterschaft teil.
Ukrainer auf hohem Niveau
So besonders in diesem Fall auch die Qualifikation der Georgier und der Polen für die Endrunde ist – dass die Ukraine dabei ist, schlägt noch einmal höhere Wellen. Denn allein bei den Umständen wird schon klar, wie besonders das ist. Denn das „Heimspiel“ der Ukrainer fand im polnischen Breslau statt, da die Uefa keine Spiele in der Ukraine erlaubt. Bilder wie aus Georgien, wo das ganze Land in Jubelstimmung war, gab es danach auch nicht zu sehen. Denn die Kriegsrealität sieht vor, dass die Menschen in der Ukraine nach Mitternacht ihre Wohnungen nicht mehr verlassen dürfen. Der Fußball hingegen verdrängte dann zumindest für eine kurze Zeit den Kriegsalltag aus dem Land. Verantwortlich dafür war Mykhailo Mudryk, der für 100 Millionen zum FC Chelsea gewechselt ist und in der Nationalmannschaft eher nicht auftrumpft. Gegen die Isländer schoss er das kriegsgebeutelte Land dann zur EM 2024, das zweite große Turnier für die Ukraine in Deutschland, nach der WM 2006. Wer nach der geschafften Qualifikation jubelnde Spieler erwartete, wurde getäuscht. Vor allem Erleichterung war spür- und sichtbar. „Ich glaube, jeder versteht, wie wichtig dieser Sieg ist“, sagte Nationaltrainer Sergiy Rebrov nach dem Sieg über Island und fügte an, für wen sein Team spielt: „Unsere Fans, unser Land, unser Volk, unsere Soldaten, die unsere Freiheit beschützen.“ Sogar Präsident Wolodimir Selenski hatte das gesamte Team zu Märtyrern erhoben und bedankte sich aufwendig bei den Verantwortlichen. Doch neben der erwähnenswerten Symbolik in Bezug auf die Ukraine, wurde diese Qualifikation vor allem durch die talentierten Spieler geschafft. Angefangen im Tor, wo sich Andriy Lunin von Real Madrid sowie Anatoliy Trubin von Benfica Lissabon um den Platz zwischen den Pfosten streiten. Kapitän Alexander Zinchenko vom FC Arsenal verkörpert bereits seit Jahren Topniveau in der englischen Premier League. Und in der Offensivreihe sind neben Linksaußen Mudryk auch Rechtsaußen Tsygankov (FC Girona) sowie Supertalent Sudakov (Schachtjor Donzek) beheimatet. Vorn in der Spitze gibt es die Auswahl zwischen Artem Dovbyk (Girona) und Roman Yaremchuk (FC Valencia). Diese talentierten Jungs standen in der Gruppe zur EM nur einen einzigen Punkt hinter Italien.
Die Zeiten der Shevchenkos sind in der Ukraine vorbei, es gibt keinen Spieler mehr, der das gesamte Land auf seinen Schultern tragen muss. Die Ukraine stellt eine vor allem in der Offensive hochtalentierte Mannschaft und zeigt sich als eingeschworener Haufen. Bei der EM geht es gegen Belgien, Rumänien und die Slowakei – warum soll da nicht auch der zweite Platz möglich sein? Vor allem mit den Fans im Rücken und den Gedanken an die Millionen Landsleute im Krisengebiet könnte für die Ukraine einiges möglich sein – und die Menschen auf bessere Gedanken bringen – im schlechtesten Fall für mindestens dreimal 90 Minuten.
Die EM in diesem Jahr ist für die Ukraine logischerweise mehr als nur ein sportlicher Wettstreit, denn natürlich wird dann auch die Aufmerksamkeit der Welt auf das Schicksal im eigenen Land gelenkt. Sport und Politik sind untrennbar, sodass diese EM auf ganz vielen verschiedenen Ebenen interessant werden könnte. Der Ukraine ist zu wünschen, dass ihre Mannschaft durch sportliche Schlagzeilen auf sich, das Leid innerhalb des Landes sowie den Krieg aufmerksam macht. Denn zum einen ist Sport sicherlich politisch – auf der anderen Seite kann er Menschen auch zusammenbringen – zumindest für 90 Minuten.