Radfahren ist gefährlich. Die Frage, ob er wohl heil zurückkommen werde, beschäftigt den Autor Stefan May jedes Mal, sobald er die Wohnungstür abschließt und sich aufs Fahrrad schwingt. Er kennt die Verhältnisse in Wien. Deshalb radelt er so gern in Berlin.
Als Radfahrer bin ich ein Spätberufener. Beim einzigen Radausflug meiner Schulklasse zuckelte ich unsicher hintendrein, und wusste nachher nicht, wie ich meine höllisch schmerzenden Beine lagern sollte.
Ein eigenes Rad legte ich mir erst als Erwachsener zu. Als ich vor einem Vierteljahrhundert in Berlin zu arbeiten begann, setzte ich es nicht nur für ausgewählte Freizeit-Ausflüge, sondern auch im Alltag ein. Es war ein kurzes Vergnügen, denn schon nach wenigen Wochen war das abgesperrte Rad aus dem abgesperrten Innenhof gestohlen. Erste Erfahrungen mit dem rauen Berlin. Jährlich verschwinden an die 30.000 Räder in der deutschen Hauptstadt illegal, erfuhr ich von der Polizei.
Radwegenetz ruft Zorn der Autofahrer hervor
Ich kaufte mir ein neues und benutze es seither regelmäßig. Doch die Angst fährt regelmäßig mit. Vielleicht aufgrund einer besonders besorgten Erziehung, vielleicht weil ich so spät anfing mit dem Radeln und unsicher bin. An den Kreuzungen gehetzter Blick nach links, ob mich ein Rechtsabbieger übersehen könnte. Dann schräg nach vorne, ob mir ein entgegenkommender Linksabbieger gefährlich werden könnte.
Dann die Radlerkameraden und -kameradinnen, die offenbar schon im Vorschulalter mit Stützrädern an ihrem Gefährt der Schrecken ihrer Wohnsiedlung waren: Ohne Helm, abends ohne Licht, überholen sie lautlos in Höllentempo auf nur wenige Zentimeter Distanz, schneiden in die eigene Spur, sodass ich vor Schreck fast in den Graben fahre, wenn es einen gäbe.
Deshalb halte ich mich bewusst weit rechts, riskiere aber, über die sich plötzlich öffnende Tür eines parkenden Kraftfahrzeugs zu segeln. Ich bin immer wieder überrascht, wie unbekümmert andere Radler und Radlerinnen durch den Berliner Stadtverkehr sausen, bei Rotlicht diagonal Kreuzungen queren und dann auch noch lautstark ausfällig werden, wenn sich Gefährdete darüber beschweren. Dass es in Berlin so viele Opfer von Radunfällen gibt, wundert mich mitunter nicht.
Dennoch lasse ich mich von meiner hier entdeckten späten Leidenschaft nicht abhalten. Die Radwege sind verlässlich, das Netz ist dicht, wenngleich die Qualität manchmal zu wünschen übrig lässt: Der rot gestrichene Belag hat seine Oberfläche sorgenvoll in Falten gelegt, die Betonplatten haben sich verschoben und klappern beim Drüberfahren.
Berlin ist eine grüne Stadt, kaum eine breite Straße, die nicht eine Allee ist. Das schafft Nachteile für Radler: Die Bäume schieben unterirdisch unbarmherzig ihr Wurzelwerk vorwärts und werfen die Fläche darüber auf. Kein Wunder, dass die Radfahrer rund um den Großen Stern den Radweg entlang der Alleebäume meiden und in oft halsbrecherischem Tempo über die Gehwege im Tiergarten jagen.
Dennoch überwiegen die Vorteile in Berlin und ich absolviere mittlerweile alle meine Wege innerhalb des S-Bahn-Rings mit dem Rad. Bei jeder Jahreszeit. Wenn ich von der Berlinale berichte, bin ich einer der wenigen, die den Kinosaal mit Helm unter dem Arm betreten.
In Wien habe ich es noch nicht recht über einmal jährliche Fahrten auf der Donauinsel hinaus gebracht. Denn Berlin hat einen Vorteil: Es ist flach. Wien liegt zwischen Donau und den letzten Ausläufern des Wienerwaldes. Ich wohne in einem Bezirk, der dort anschließt, er ist hügelig. Hätte ich ein E-Bike, wäre ich wohl öfter unterwegs. Ich fuhr einmal vom Besuch bei Freunden zurück und hatte gegen Ende eine lange Gerade entlang des Türkenschanzparks zu bewältigen, deren sanfte Steigung mir bisher im Linienbus nie aufgefallen war. Damals aber wollte der Abschnitt schier nicht enden, bei der Ankunft daheim war ich ziemlich erledigt.
Doch auch in zentrumsnahen Stadtteilen ist Radfahren kein Vergnügen. Zwar werden seitens der Stadt immer mehr Verbindungen geschaffen und zu einem Netz verknüpft, was wiederum den Zorn der Autobegeisterten hervorruft, weil Parkplätze verloren gehen. Trotzdem muss man sich hier mehr Herausforderungen stellen als in Berlin.
Wien ist ein lebendes Museum, eine gewachsene Stadt mit einem mehr oder weniger historischen Zentrum. In der Innenstadt sind die Straßen eng, die Bürgersteige schmal, Fußgänger, Radler, Durchzugs- und Lieferverkehr kommen sich ständig in die Quere. Das erzeugt Aggressionen und bestätigt ein ums andere Mal das Klischee vom grantigen Wiener. Wo soll da noch der Radverkehr hin?
Unkomfortables Kopfsteinpflaster
Keine Rede von mehrspurigen Straßen pro Fahrtrichtung. Das gibt es in Wien nur auf wenigen Hauptverkehrsstraßen. Wenn ein Auto in einer Straße stehen bleibt, dann geht in diese Richtung nichts mehr. Es ist vielerorts beim besten Willen unmöglich, in Wien auch noch einen Radstreifen anzulegen. Außerdem weist mancher historische Straßenzug für Drahtesel-Reiter unkomfortables Kopfsteinpflaster auf.
Und auch in Wien sind die Radlergenossen nicht zimperlich: Entlang der breiten Ringstraße rund um das Zentrum besteht seit Langem in einer Nebenfahrbahn ein breiter Radweg. Einige Radler und Radlerinnen meinen, sie könnten über ihn trotz der mit ihren Stadtplänen kreuz und quer stolpernden Touristen genauso dahinbrettern wie zwischen den Feldern in den Außenbezirken.
Wien hat das sechstgrößte Straßenbahnnetz der Welt. Für jene, die Tram Nutzenden Segen, für die Lenker einspuriger Fahrzeuge Fluch. Schon recht früh hatte ich diese Erfahrung gemacht, als ich in der Nähe meiner Wohnung in die Rillen der Schienen geriet, unvermittelt nach vorne über den Lenker abstieg und zwischen zwei parkenden Autos zu liegen kam. Glücklicherweise trug ich keinen Schaden davon. Seither habe ich einen Riesenrespekt vor Schienen und weiche allen Straßen mit Straßenbahnverkehr aus, ausgenommen ich habe sie zu kreuzen.
Man hat als Radfahrer im Zusammenleben mit der Straßenbahn zwei Möglichkeiten: den schmalen Streifen rechts neben den Schienen nutzen und ständig gewärtig zu sein, dass sich plötzlich die Tür eines Autos am Straßenrand öffnet. Oder zwischen den Schienen fahren und nicht nur eine Autoschlange, sondern auch den fast spürbaren Unmut der sich in den Fahrzeugen Befindenden hinter sich herzuziehen. Es gibt einen Bilderwitz im Wiener Dialekt, der eine hinter einem Radler herfahrende Straßenbahn zeigt. Deren Fahrer ruft dem Radler zu: „Kannst du nicht woanders fahren?“ Dieser antwortet: „Ich schon.“
Radeln in Wien ist Stress. Hinzu kommt, dass die Wienerinnen und Wiener den Radverkehr noch nicht so gewohnt sind wie die Einwohner Berlins. Sich beim Rechtsabbiegen umzudrehen, ob nicht ein Einspuriger dahergefahren kommt, der geradeaus weiterwill, hat man dort in den Genen. In Wien spielte Radverkehr aus den genannten topografischen Gründen früher keine Rolle und ist erst in den letzten Jahren in Mode gekommen. Soll heißen: Ich wende den Vertrauensgrundsatz den Autolenkern in Wien gegenüber noch zurückhaltender an als in Berlin und bleibe extrem misstrauisch.
Dennoch überwinde ich weiterhin meine Ängste und werde mit einem Schub Freude nach jeder Ausfahrt belohnt: Ich war genauso schnell wie das öffentliche Verkehrsmittel unterwegs, gesund war es obendrein – und letztlich hat es ja doch Spaß gemacht.